1599 Pflaster
Ein Bericht von Hannah Lambert
Ich überlege, was ich in meinen Semesterferien im März machen könnte und erinnere mich an Gregor, den ich in meinem Rumänischkurs kennengelernt habe und der mein Interesse geweckt hat, als er von seiner Mission erzählte, den Pferden in Rumänien das Leben zumindest etwas leichter machen zu wollen. Ich rufe ihn an. Nein, leider habe ich keinerlei Ausbildung im tiermedizinischen oder -orthopädischen Bereich. Ich studiere Landschaftsökologie. In der Tat, Vegetationsanalysen und Eulenkartierungen sind an dieser Stelle wenig hilfreich. Fotografen sind gesucht? „Perfekt, da bin ich dabei!“, sage ich mit Blick auf meine Kamera. Ich bekomme die Telefonnummer von Melanie. Sie freut sich über die Aussicht auf neue Fotos. Ich soll nach Griechenland reisen? Kann ich auch nach Rumänien? Ich werde an Nina weitergeleitet. Kurz darauf steht fest: Es geht für eine Woche nach Sighisoara, bzw. direkt daneben - nach Albesti! Wenige Tage vor Abflug marschiert Russland in die Ukraine ein. „Ich freue mich, wenn du nicht fährst“, äußert meine Mutter vorsichtig ihre Bedenken und auch Freunde reagieren überrascht, dass ich an meinem Reiseplan festhalten möchte. Auf Google Maps sehe ich nach, es sind 300 km von Sighisoara bis zur ukrainischen Grenze… Als ich abends auf mein Handy schaue, hat mir Nina eine Sprachnachricht geschickt. Wird sie die Reise abblasen?
„Wir wollten noch etwas zu Essen einkaufen gehen. Hast du Allergien oder besondere Wünsche?“ - Rumänien, ich komme!
Gleich nach meiner Ankunft in Albesti fahren wir zu dritt zu einer ärmlichen Siedlung. Wir sollen uns zwei Pferde ansehen, denen es nicht gut geht, sowie einige neue Welpen.
Dort angekommen befindet sich vor uns ein kleiner Bach, dahinter eine Ansammlung kleiner Häuser, manche darunter lassen sich eher als Hütten bezeichnen. Etwa 15 Kinder spielen an der Straße. Einige haben sich aus Holz und Plastik Pfeil und Bogen gebastelt. Ein Mädchen trägt ein schmutziges Hochzeitskleid, vermutlich ein Überbleibsel der Hochzeitsmesse, die kürzlich in Sighisoara stattgefunden hatte.
Nina und Gabriel steigen aus, werden von den Kindern begrüßt.
Gabriel behandelt die Menschen respektvoll und auf Augenhöhe. So kenne ich das nicht von meinen rumänischen Bekannten. Aber ich freue mich darüber. Der Umgang scheint vertraut und verspielt. Ich wage mich auch aus dem Auto und folge den beiden etwas zögerlich.
Sobald die Kinder verstehen, dass das große schwarze Ding in meinen Händen eine Kamera ist, sind sie sehr interessiert. „Only one“, sagen sie und noch eins. Und noch ein weiteres Foto soll ich machen. So wie ich es auch schon mit Kindern in Deutschland gemacht habe, gebe ich ihnen auch die Möglichkeit, selbst einige Fotos zu machen. Natürlich nur ohne den Tragegurt zu lösen, denn so naiv bin ich dann doch nicht, ihnen die Kamera ganz zu überlassen. Dennoch bereue ich kurze Zeit später meine Entscheidung. Dass die Welt hier nicht ganz so aussieht wie bei uns, das ist beim ersten Anblick klar: Überall liegt Plastik herum. Es ist im Boden, im Wasser in den Häusern, einfach überall. Der Gestank schlägt einem entgegen, wie der Dreck auf den Klamotten der Kinder. Der Umgang untereinander ist von hoher Gewaltbereitschaft geprägt. Die bekomme ich auch zu spüren, denn sage ich „Nein“, wenn mir der Andrang zu viel ist und ich nicht möchte, dass zehn kleine Hände an den Knöpfen meiner Kamera herumspielen, werde ich von einem Mädchen mit einem Stock geschlagen. In der Tat bin ich überfordert und entscheide mich instinktiv für ein passives und ruhiges Verhalten. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Den Tieren geht es ähnlich wie mir: Im einen Moment sind die Kinder sehr nett und streicheln Pferd und Hund - und dann schlagen sie grundlos drauf. Die meisten Tiere reagieren völlig abgestumpft.
Die Aussage Ninas, den Wagen fluchtbereit abzustellen, war also kein Übersetzungsfehler. Die Stimmung hier, so realisiere ich, kann schnell hin und her kippen.
Zwischendurch bemerke ich, dass Gabriel und Nina ein ganzes Stück entfernt oder gar aus meinem Sichtfeld verschwunden sind. Ich bin viel zu sehr von den Kindern abgelenkt, als dass ich mir mit ihnen die Tiere ansehen kann. Stets versuche ich möglichst ruhig zu bleiben und meine Angst vor den Kindern nicht zu zeigen. Plötzlich sehe ich inmitten von Müll und Steinen in einer Hausruine einen weiteren Wurf Welpen. Sieben Stück. Wie stehen ihre Überlebenschancen hier in diesem Dreck und bei der Kälte?
Laut Nina überlebt pro Wurf durchschnittlich nur einer die harten Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Und selbst wenn man sie ins Tierheim holt, sieht es nicht unbedingt besser aus, da sie dort mit Viren wie dem Parvovirus konfrontiert werden, die im Welpenalter meist tödliche Auswirkungen nach sich ziehen. Und auch wenn sie das überleben, ist das Aufwachsen im Tierheim alles andere als welpenfreundlich: Sie werden nicht mehr als einen gekachelten Raum kennenlernen. Ich denke an die zwei Würfe. Insgesamt waren es 15 Welpen. 13 von ihnen werden womöglich sterben. Ich fühle mich ganz schlecht, weiß, dass die Dinge keinen guten Lauf nehmen werden und kann doch nichts daran ändern.
Ich erinnere mich an ein Seminar, das ich im letzten Semester belegt habe: Bis die Auswirkungen von Renaturierungsmaßnahmen auf Flächen tatsächlich nachweisbar sind und sie sich im ökologischen Gleichgewicht befinden, vergehen mindestens 10 Jahre. Hier ist es so ähnlich, denke ich mir. Hier kann man auch nicht herkommen und „Zack-Zack“ den Leuten erklären, dass man so nicht mit Tieren umgehen kann, alle Tiere kastrieren und dann wieder weg. Das funktioniert nicht. Man muss eine Beziehung zu den Menschen aufbauen, auch wenn man ihr Verhalten nicht versteht: Wir sind nicht in der Position, ihr Verhalten von jetzt auf gleich so grundlegend zu ändern - niemand ist das. Es dauert Jahre, bis Menschen und Tiere sich umgewöhnen und Vertrauen fassen. Jeder Hund mit Klammer am Ohr, die zeigt, dass das Tier bereits kastriert ist, ist schon ein kleiner Sieg. Und immer häufiger fallen sie einem auch schon so auf der Straße auf. Jedes Mal freue ich mich. Hier hat Nina schon einen Unterschied bewirkt, hat leidvolle Schicksale erspart. Das sind die positiven Effekte, die wir jetzt schon mitbekommen. Aber wie groß und nachhaltig die Auswirkungen ihrer Arbeit sind, wird sich in den weiteren Jahren zeigen.
Als ich Gabriel und Nina später von meiner Begegnung mit den Kindern erzähle, stellt sich heraus, dass unter den Kindern, denen ich begegnet bin, noch nicht mal die Schlimmste, „the evil one“, dabei gewesen sein soll. Ich muss sagen, ich bin nicht traurig darüber, mit ihr nicht die Bekanntschaft gemacht zu haben…
Zum Glück aber eskalierte die Situation nicht, wie in manch anderer Geschichte, die mir die Zwei hinterher erzählen. Für das schnell umschwingende Verhalten der Menschen hier machen sie den schweren Alkohol- und Drogenmissbrauch, auch während der Schwangerschaft, verantwortlich sowie keine Erziehung, fehlende Bildung und die schlechten Lebensbedingungen.
Abends sitzen wir noch lange zusammen und reden. Auch erklärt mir Nina, wie die nächsten Tage ungefähr aussehen werden und dass ich möglichst von allen Hunden im Tierheim Fotos machen soll. Fast alle sind, zumindest potenziell gesehen, zur Adoption nach Deutschland vorgesehen.
Am nächsten Morgen fahren wir ins Tierheim. Dort beginnt, nach mehreren Wochen Pause, wieder die Arbeit von Nina und Gabriel. Sie arbeiten von Montag bis Samstag. Nur sonntags haben sie frei, also zumindest theoretisch. Nachdem wir die Ausrüstung aus dem großen Transporter in den provisorischen OP-Raum gebracht haben, stehe ich eine ganze Weile erstmal herum, bzw. im Weg, da ich weder den Ort noch die Menschen, geschweige denn ihre Abläufe, kenne. Schließlich gehe ich raus und treffe Dobrin, einen der Pfleger. Er kann fließend Deutsch und nimmt mich mit auf eine Tour durchs Tierheim, damit ich alle Hunde kennenlerne und weiß, in welche Zwinger ich meine Hand rein halten kann und bei welchen nicht garantiert werden kann, dass ich danach noch eine habe... Dobrin sagt, dass er Hunde unter anderem so gerne habe, weil sie so unterschiedlich sein können. Sowohl im Äußeren, im Charakter als auch vom Verhalten selbst variieren Hunde stark. So auch hier im Tierheim.
Ich kenne das von dem Gestüt, in dem ich seit meiner Kindheit viel Zeit verbracht habe. Dort lebten die Pferde mehr oder weniger frei in großen Herden zusammen. Setzte ich mich auf eine der Wiesen, so kamen zuerst die Pferde an, die sehr neugierig waren oder arbeiten wollten. Sie hatten in ihrem Leben noch nichts gesehen und manchen merkte man an, dass sie gerne etwas erleben wollten. Andere hingegen waren völlig desinteressiert oder ergriffen sogar die Flucht, wenn man sich ihnen näherte. Sie waren neutral eingestellt oder hatten etwas Angst. So oder so wollten sie keine Veränderung. Wenn ich mir besonders viel Zeit nahm und lange sitzen blieb, so gewöhnten sie sich an mich und manche waren schließlich doch interessiert.
So ähnlich ist es hier auch mit den Hunden. Da sind solche, die quasi überreif sind. Die Zeit im Tierheim ist pure Verschwendung für sie und sie sollten eigentlich so schnell wie möglich in Deutschland adoptiert werden, um dort richtig aufzublühen. Sie haben Lust auf Menschen, Lust, Neues zu lernen und freuen sich über jegliche Zeit, die man mit ihnen verbringt.
Es ist doch erstaunlich, was für tolle Hunde hier sitzen. Wie viel sie erlebt haben und was für Ungerechtigkeiten ihnen widerfahren sind. Und doch freuen sie sich so sehr, wenn man sie besucht, wollen lieben und geliebt werden. Am liebsten würde ich sie alle mitnehmen...
Aber es gibt auch andere, die noch viel Zeit brauchen, um sich langsam oder wieder auf Menschen einlassen zu können und es gibt wiederum welche, für die ist das Tierheim selbst gerade so in Ordnung. Für sie wäre vermutlich eine Reise nach Deutschland, in ein völlig anderes Leben als alles was sie bis jetzt gesehen haben, viel zu viel.
Dazu gehören z.B. fünf Hunde, die extra schon auf die eine Hausseite geholt wurden, wo sie im ständigen Kontakt zu Menschen sind, da hier die Arbeiter immer wieder durchlaufen müssen. Sie sind seit vier Jahren hier und lassen sich immer noch nicht anfassen. Sie haben zuvor wild gelebt und hätten wahrscheinlich problemlos überlebt, ohne je zu einem Problem zu werden. Da die Gesetzeslage in Rumänien aber mittlerweile keine Straßenhunde mehr vorsieht, mussten auch sie eingefangen werden. Tatsächlich sieht man auf den ersten Blick nur die drei Hündinnen. Eine von ihnen ist sehr wachsam und bellt bedrohlich, wenn man sich dem Zwinger nähert. Nach der Woche hat sie sich zunehmend an mich gewöhnt. Ich setze mich täglich zu ihnen und nach einer Weile des „Nichtbeeindruckenlassens“ von ihr, gibt sie es auf und legte sich in ihre Box. Sobald sie entspannt ist, vorzugsweise sogar einschläft, gehe ich leise wieder raus. Jedenfalls leben im selben Zwinger auch noch ganz unscheinbar zwei Rüden. Sie liegen immer in ihren Boxen und kommen wohl nur zum Fressen und sich erleichtern heraus, was ich selbst jedoch kein einziges Mal mitbekomme. Was haben sie wohl erlebt?
Mir fällt auf, dass viele der Hunde dunkle Narben auf den Nasenrücken haben. Dobrin erklärt mir, dass es sich hier um Brandnarben handelt. In vielen rumänischen Dörfern ist es eine gängige Methode, mit Parvovirose infizierten Hunden die Nase mit heißem Metall zu verbrennen. Die Menschen haben die Hoffnung, damit die Viren abzutöten. Welch Schmerzen die Hunde dabei erleiden müssen, ist kaum auszumalen. Dabei gibt es doch sogar eine Impfung gegen Parvovirose!
Ich frage Dobrin, ob die Hunde auch manchmal raus können. Ja, mindestens einmal die Woche werden sie ausgeführt. Viele von ihnen müssen das erst lernen und leider gibt es auch welche mit denen es bis jetzt noch nicht funktioniert hat. Sie brauchen noch mehr Zeit.
Mit Tarzan aber z.B. wird täglich spazieren gegangen. Er ist vor rund zwei Monaten schwer verletzt am Straßenrand gefunden worden. Beide Hinterbeine waren gebrochen, man sah von einer OP ab. Mittlerweile sind sie zwar schief zusammengewachsen aber durch die täglichen Spaziergänge erholt sich seine Muskulatur und er kann sich zunehmend besser bewegen. Tarzan ist dem Äußeren nach ein Herdenschutzhund. Das einzig Abschreckende sind seine abgeschnittenen Ohren, aber dafür kann er ja nichts und sie spiegeln ganz und gar nicht seinen Charakter wider. Ich weiß nicht warum, aber er hat offenbar große Angst vor dem Geräusch des Auslösers meiner Kamera. Wenn ich mit der Kamera in der Hand auftauche, versteckt er sich wahlweise hinter Dobrin oder in seiner Hundehütte. Obwohl er unsicher ist, wirkt er dabei nicht ansatzweise aggressiv und ich darf ihn jederzeit streicheln, auch in seiner Hütte, und sogar, wenn vor ihm Futter steht...
In den nächsten Tagen schaue ich Nina bei der Arbeit zu, helfe Hunde und Katzen rein- oder herauszubringen, richte die Transportboxen her und gehe ab und an die anderen Hunde in ihren Zwingern besuchen. Manchmal ruft Mona, die Leiterin des Tierheims, nach mir, wenn sie mit dem Auto rausfahren möchte. Ziel dieser Touren ist es, möglichst viele Hunde und Katzen von Besitzern ohne Transportmöglichkeit einzusammeln und zum Kastrieren zum Tierheim zu fahren und danach wieder zurück zu ihren Besitzern. Mit meiner Kamera in der Hand fühle ich mich dabei wie eine professionelle Fotojournalistin, die sowohl die Missstände der Menschen als auch die Gesundheitszustände der Tiere dokumentiert. Ich freue mich darauf, neue Ecken Sighisoaras kennenzulernen und mich mit dem Lebensstil vertrauter zu machen. Dabei gehe ich aber deutlich passiver vor als an meinem ersten Tag. Ich mache viel weniger Fotos, nehme keinen tieferen Kontakt mehr zu den Menschen auf und halte mich eher im Hintergrund. Dazu bleibe ich immer in Sichtweite zum Auto oder zu Mona, die offen auf die Menschen zugeht und ihnen von unserem kostenlosen und freiwilligen Angebot erzählt. Die meisten Menschen reagieren zunächst skeptisch. Am Anfang bekommen wir größtenteils nur einen oder zwei Hunde mit. Bringen wir sie dann am nächsten Tag zurück, so ist die Freude groß und das erste Vertrauen geschaffen. Dann sind auch mehr Menschen bereit, uns ihre Tiere mitzugeben.
Zwischendurch mussten wir noch eine kleine Sondermission erfüllen, die wir vom Rathaus aufgetragen bekommen hatten: Wilde Hunde einfangen, die die Anwohner einer Straße abends in Angst und Schrecken versetzten. Dafür bauten wir sogar extra eine Falle auf. Bis zu meiner Abreise jedoch rief sie nur einen verrückten Mann auf den Plan, der mit einem Holzspeer bewaffnet dagegen protestierte.
Nicht weniger spannend ist es im Operationsraum. Ich habe zuvor noch nie eine OP live verfolgt und bin gefesselt davon, wie selbstverständlich und eingespielt Gabriel und Nina vorgehen. Vormittags werden Katzen kastriert, nachmittags Hunde. Die Katzen sind einfacher, die schafft Nina im Zweifel auch ohne Hilfe. Sie werden aus ihren Boxen in weiße Drahtkäfige gesetzt, die eine bewegliche Zwischenwand haben. Um sie zu narkotisieren, kann man sie also ganz einfach durch einen Hebel zwischen den beiden Wänden fixieren und dann spritzen. Sobald sie schläfrig werden, trägt man sie zum Vorbereitungstisch. Dort werden sie untersucht. Ihre Ohren werden gegen Milben behandelt (fast jede Katze ist befallen), die Zähne kontrolliert, ein Mittel auf die Augen aufgetragen gegen Austrocknung, dann werden noch Antibiotikum und Schmerzmittel gespritzt. Ein Mittel gegen Ekto- und Endoparasiten kommt auf die Haut. Anschließend wird das Operationsfeld freirasiert und sie wandern auf den Operationstisch. Für Kater braucht Nina nur zwei Minuten. Hier werden einzeln die Hoden entfernt und das Scrotum verklebt, so verheilt die Wunde am besten. Die Katzen brauchen natürlich etwas mehr Zeit. Die Bauchdecke muss geöffnet, Gebärmutter und die beiden Eierstöcke gesucht, abgebunden und entfernt werden. Dann wird genäht, zuerst die Bauchdecke, dann die eigentliche Haut.
Hunde zu kastrieren kostet mehr Zeit. Auch sind sie durch ihre Größe und Gewicht deutlich umständlicher in der Vorbereitung. Nina schickt Gabriel während der aktuellen Operation in den Warteraum, um dort den nächsten Hund zu sedieren. Nach einigen Minuten ist der Hund müde und kann von Gabriel geholt werden. Mit freundlichen und aufmunternden Worten schafft er es häufig auch ohne Anheben, die Hunde in den OP zu bringen. Dort angekommen, wird die Vene des linken Vorderbeines frei rasiert und ein Zugang gelegt. Nur selten muss ich dabei helfen und durch einen Griff, den mir Gabriel zeigt, den Hund so fixieren, dass er weder zubeißen noch sich entziehen kann. Wenn der Zugang gelegt ist, bekommt der Hund die Narkose durch den Venenzugang verabreicht. Später wird hier auch die Infusion angeschlossen. Anschließend wird der Unterbauch bei Hündinnen und die Hoden sowie deren Umgebung bei Rüden rasiert. Auch hier wird noch Antibiotikum und Schmerzmittel gespritzt. Zusätzlich wird auch die Wurmkur durch eine Spritze verabreicht. Manche Hunde haben sehr verfilztes und ungepflegtes Fell. Gabriel und ich nutzen die Zeit vor und nach der OP und entfernen möglichst viele Kletten und störenden Filz. So wird der kostenlose Tierarztbesuch für das Tier nachhaltig genutzt. Denn wahrscheinlich sehen nur die wenigsten von ihnen je nochmal eine Praxis von innen.
Während ich Gabriel und Nina zusehe, bin ich stolz darauf, wie professionell sie vorgehen und freue mich für jedes Tier, das von Nina operiert wird. Sie ist seit 14 Jahren auf Kastrationen spezialisiert und hält das Leiden der Tiere auf niedrigstem Niveau. So schneidet sie z.B. bei den weiblichen Tieren einmalig mittig zwischen den großen Bauchmuskelpartien und auch nur so weit auf, dass die Reproduktionsorgane nach außen verlagert werden können. Sie muss nicht sehen, nur fühlen. Es fließt viel weniger Blut als ich erwartet habe und generell bin ich überrascht: In dieser einen Woche dort schafft sie täglich um die 30 Operationen!
Live dabei erlebe ich noch die Entfernung eines Gesäugetumors und einer entzündeten Gebärmutter. Nina klärt mich über die letztere OP auf, dass solche Gebärmutterentzündungen zwar nichts Seltenes seien, aber unbehandelt lebensbedrohlich werden können. Insbesondere, wie in diesem Fall, wenn die Flüssigkeit nicht ablaufen kann, weil der Gebärmutterhals verschlossen ist.
In Deutschland hat man in der Regel die Wahl zwischen mehreren Tierarztpraxen, die rechtzeitig und professionell den Hund operieren können. Dort komme es auch nur selten zum Tod einer betroffenen Hündin. In Rumänien hingegen helfe niemand den Tieren. Die Zahl der Tierärzte sei gering, deren Ausbildung obendrein katastrophal (das wird mir auch von der OP-Assistentin bestätigt, die hier aktuell Tiermedizin studiert). Ich denke an all die schlimmen Dinge, die ich hier schon gesehen habe. Ich selbst begreife das Ausmaß nur schleppend. Das, was mich schon bei meinem ersten Besuch in Rumänien schockiert hat, ist dieses weit verbreitete Verhalten, die Tiere wie Gebrauchsgegenstände zu behandeln. Sie werden produziert, benutzt und entsorgt. Eigentlich genauso wie in der deutschen Fleischindustrie. Tagein, Tagaus. Hunde und Katzen haben hier auch nur den Stellenwert von Nutztieren und sie werden im Endeffekt nicht anders behandelt als der Großteil an Nutztieren in Deutschland auch. Der einzige Unterschied ist, dass es hier auf offener Straße stattfindet und nicht hinter verschlossenen Türen wie bei uns. Wie muss es sich für jemanden mit tiermedizinischem Verständnis anfühlen, der die deutschen Verhältnisse gewöhnt ist und das Ganze hier erlebt? Bekommt man dann einen Nervenzusammenbruch? Man sieht das Leid und man arbeitet und arbeitet, aber es nimmt einfach kein Ende. Es geht immer weiter. Denn die weit verbreitete gesellschaftliche Meinung ist nicht, dass Tiere, wie wir, Emotionen haben und deswegen auch fair behandelt werden sollten. Ohne eine solche Einsicht aber wird sich nichts am Verhalten der Menschen und damit am Leid der Tiere ändern. Zum ersten Mal realisiere ich dieses ganze Dilemma, mit dem Nina seit Jahren zu kämpfen hat. Ich verstehe ihre Motivation, diesen Kampf gegen das Leid und die Ungerechtigkeit, die den Tieren widerfährt. Sie hat es sich wahrlich nicht einfach gemacht. Sie hat sich gegen eine sichere Praxis in Deutschland und für die Straßenhunde der Welt entschieden. Sie hat sich für die entschieden, die sie am meisten brauchen, deren Leben von ihr abhängt. Deren Besitzer, wenn sie ihrem Tier helfen wollen, nicht die Wahl haben zwischen fünf guten Tierärzten, geschweige denn das Geld dafür.
Frei laufende Hunde bekommen zusätzlich zu der Tätowierung am Bauch und im Ohr noch einen Marker am linken Ohr. Der sieht ein bisschen aus wie eine neonfarbene Wäscheklammer und fällt gleich auf, wenn man darauf achtet. So bekommt man nicht nur einen guten Überblick, sondern verhindert auch, dass Hunde unnötigerweise aufgeschnitten werden.
Die anderen kommen von einer Fahrt zurück und haben mehrere Hunde dabei. Beim Tragen einer besetzten Hundebox vom Auto zum Haus fällt mir auf, dass die Hunde starken Speichelfluss zeigen. Haben sie vielleicht Tollwut? Dobrin muss mein Gesicht gesehen haben. Er erklärt mir, dass die Hunde noch nie zuvor Auto gefahren sind und ihnen deswegen während der Fahrt schlecht geworden ist. Sie fangen dann an zu speicheln.
Unter den Hunden ist auch eine noch junge Hündin, die abgemagert ist und kaum noch Fell hat. Sie ist von Haarlingen befallen, hat Räude. Dazu ist in ihrem Bauchraum freie Flüssigkeit. „Das ist quasi wie ein Hungerbauch, den man von Kindern in Afrika kennt“. Die Hündin guckt sehr mitleiderregend drein, sie lässt sich problemlos behandeln und ist dazu sehr lieb. Mona entscheidet sich, sie im Tierheim zu behalten und rettet ihr somit das Leben. Sobald es ihr besser geht, könnte sie nach Deutschland adoptiert werden.
Außer ihr ist auch eine Mutterhündin mit ihrem vier Monate alten Welpen angekommen. Während wir die Mutter operieren, darf der Welpe mit im OP sitzen. Danach kommt der letzte Hund: ein golden gesprenkelter Rüde, mit Sicherheit aus dem vorherigen Wurf der Hündin, so ähnlich sehen sie sich. Er hatte die ganze Zeit vorher geschlafen und war generell sehr ruhig. Man könnte meinen, er wäre froh darum, endlich etwas Ruhe zu finden. Ich darf ihn später wieder zurück in seine Box legen. Dort streichele ich ihn noch eine ganze Weile. Das Fell ist so dicht und weich...
In den kommenden Tagen besuche ich immer wieder ihren Zwinger, den sie sich mit der räudigen Hündin teilen, die ja auch aus ihrem Dorf stammt. Außer der älteren Mutterhündin, die immer etwas reserviert bleibt, freuen sich die anderen drei jedes Mal riesig über etwas Aufmerksamkeit.
Im OP liegt eine schwarz-weiße Hündin. Schon auf den ersten Blick sehe ich, dass etwas mit ihrem Maul nicht stimmt. Der Oberkiefer steht ganz deutlich über dem Unterkiefer. Man sieht sogar die Zähne. Bei näherer Betrachtung sehe ich auch, dass ihr Kopf deutlich deformiert ist, ihr an einer Pfote zwei Zehen fehlen und auch der Schwanz einfach mittig abgeschnitten worden ist. Ein Griff ins Fell zeigt, dass dieses durch seine Fülle über den eigentlichen Gesundheitszustand täuscht: Die Knochen sind deutlich spürbar. Wie schlimm es wirklich ist, dass sie das Maul nur einen Spalt öffnen kann und Hecheln für sie auch unmöglich ist, das erfahre ich von Nina. Sie macht dafür einen Kieferbruch verantwortlich. Auch ist sie sehr besorgt, denn eine solche Operation kann definitiv nicht in Rumänien ausgeführt werden. Damit steht fest, dass „Lima“ nach Deutschland ausreisen wird. Da sie bis dahin nicht im Tierheim bleiben kann, sondern eigens von Nina mit flüssig püriertem Futter versorgt werden muss, nehmen wir sie mit zu uns nach Hause, bzw. jeden Tag wieder mit auf die Arbeit. Ab dem ersten Moment zeigt Lima ihren tollen Charakter. Sie ist so lieb und süß, dass sie jedem, der ihr begegnet, ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Abends sitze ich mit Gabriel in der Küche. Wir schwelgen wieder in philosophischen Fragen. Dass er fast doppelt so alt ist wie ich nimmt er zum Anlass mir einige Lebensweisheiten mit auf den Weg zu geben: „Jetzt bist du noch in dem Alter, in dem du Strukturen an dir selbst ändern kannst: Wenn du einen Moment der Ruhe hast und tief in dich gehst, kannst du dir etwas vornehmen, was du an dir verändern möchtest. Und ab da musst du aber auch wirklich strikt daran festhalten. Wenn du das durchziehst, wird es ein Teil von dir.“
Ein weiteres denkwürdiges Zitat von ihm: „Die eine Hälfte unseres Lebens ist das, was wir erleben und sehen. Die andere das, was wir uns selbst erzählen“.
Als wir an einem Tag in dem Dorf hinter der Ziegelfabrik in Sighisoara stehen, unterhalte ich mich mit der deutsch-rumänischen Veterinärstudentin, die Nina im OP aushilft.
Wir lassen unsere Blicke schweifen, plötzlich sagt sie, sie habe kein Mitleid mit den Menschen, nur mit den Tieren. Die Aussage finde ich krass. Schließlich kann kein Mensch etwas dafür, wo er geboren wird, unter welchen Bedingungen er aufwächst und was ihm von seiner Familie vorgelebt wird. Wir wären wohl kaum so wie wir jetzt sind, wenn wir hier aufgewachsen wären. Wir leben in einem isolierten Haus, gehen morgens heiß duschen und danach in den Supermarkt einkaufen, wir können uns vielseitig informieren, wenn uns ein Thema interessiert. Uns stehen so viele Türen offen. Uns geht es gut. Und wir wissen, dass man mit Tieren tolle Dinge erleben kann, wenn man sie mit Respekt behandelt, wenn man ihre Bedürfnisse erfüllt und sie erzieht. Wir wissen, dass sie Emotionen haben und ihre Persönlichkeiten genauso divers sind wie bei Menschen. Es wurde uns beigebracht. Wir hatten die Möglichkeit es zu lernen. Was für ein Glück wir haben!
Auch wenn es mir schwerfällt, macht es keinen Sinn auf Menschen herabzublicken, die nicht so viel Glück hatten wie wir. Die von klein auf schon selbstständig sein mussten und nicht dieselbe Bildung erfahren haben und wissen, dass es so viel mehr auf der Welt gibt. Wenn ich sie auf ihre Tiere einschlagen sehe, wünsche ich mir, ihnen zeigen zu können, dass es ohne Gewalt viel besser funktioniert. Dass man ganz frei mit Tieren arbeiten kann, wenn man ihre Kommunikation erlernt, wenn man sie verstehen kann und sie uns, anstatt einseitige Kommunikation zu führen. Dann kann man sie auch durch Spaß motivieren, nicht durch Schläge. Dann geben sie einem auch viel zurück und man kann gegenseitig voneinander lernen. Ich wünsche mir, ihnen zeigen zu können, dass es doch so viel besser und effizienter gehen kann.
Das einzig Tröstliche ist, dass die Tiere, die in diesem Dorf leben, quasi schon auf ihr unberechenbares Verhalten hin nicht nur gewöhnt sind, sondern in gewisser Weise auch gezüchtet. Verhält sich ein Hund seinem natürlichen Verhalten entsprechend auf Gewalt mit Gegengewalt, also quasi Notwehr, dann wird er hier „aussortiert“. „Zu gefährlich für die Kinder“. Genau, denn mitzuteilen, dass man nicht getreten werden möchte, ist nicht erwünscht. Dasselbe mit den Pferden.
Ich beobachte das Verhalten eines an seiner Kutsche angebundenen Pferdes. Das Pferd legt die Ohren deutlich an als die Kinder kommen. Sie ignorieren alle Zeichen seiner Anspannung, laufen, ohne zu zögern, hin und streicheln es. Im nächsten Moment schreien sie plötzlich lauthals und völlig grundlos. Ich rechne damit, dass das Pferd den Kopf hochreißt, vielleicht sogar austritt, mindestens aber zusammenzuckt. Nichts passiert. Nur die Ohren legt es noch etwas stärker an. Sowas habe ich noch nicht erlebt. Die Kinder sind wieder weg. Als ich mich vorsichtig näher und meine Hand ausstrecke, legt es erneut die Ohren an. Ich zeige durch meine Körpersprache wenig direkten Druck, trete von der Seite und nicht von vorne heran. Ich streichle es zaghaft. Die Ohren entspannen sich. Jetzt kraule ich auch die Mähne. Die schönste Reaktion kommt als ich wegtrete und das Pferd seinen Kopf hebt und sich nach mir umschaut. Da ist doch noch was drin in diesem Kopf, das noch nicht völlig abgestumpft ist!
Die nächsten Tage denke ich viel über die Unterschiede zwischen Rumänien und Deutschland nach. Landschaftlich sticht Rumänien von allem, was ich bis jetzt gesehen habe, heraus. Weite Ausläufer der Karpaten ergeben wunderbar hügeliges Land. Nicht zu viel, nicht zu wenig, gerade richtig. Dazu viel Gebüsch und Bäume zwischendrin. Nicht diese Parzellen, wie in Deutschland. Nein, in Rumänien gehen die Landschaften ineinander über. Außerhalb der Städte gibt es noch richtig Natur, eine hohe Artenvielfalt. Zu guter Letzt auch, weil viele Menschen Subsistenzwirtschaft betreiben. Die Menschen gehen in den Wald, um Holz zu holen für ihren Ofen. Hier werden keine Fichten als Kapitalanlage in Reih und Glied gepflanzt.Hier entwickeln sich Nieder- und Mittelwälder neben Hoch- und Urwäldern, wie in Deutschland noch vor wenigen hundert Jahren. Statt wenige Großbauern ist hier jeder Kleinbauer. Das, was Rumänien fehlt, ist nicht die Wirtschaftskraft von Deutschland, die ‚Wohlstand‘ bringt und die Menschen abhängig macht von leeren Versprechungen. Es ist das Erfüllen der grundlegenden Bedürfnisse. Insbesondere die finanzielle Situation führt dazu, dass die Menschen immer Geldsorgen haben. Dass sich die Rumänen an dieselben EU-Gesetze und -Vorschriften halten, aber nicht dasselbe Gehalt gezahlt bekommen, darüber regen sie sich hier alle auf. „Nur wenn du finanziell abgesichert bist, wenn du weißt, wie du deine Miete bezahlst, hast du genug Zeit, um dir Gedanken über Termine zu machen“ erklärt mir der Bruder von Gabriel. Deswegen seien die Rumänen, was Pünktlichkeit angeht, auch nicht so verlässlich und genau wie die Deutschen. Nina bemerkt: „In Rumänien nervt das Chaos, in Deutschland fehlt das Abenteuer“. Alle, mit denen ich darüber rede stimmen überein, dass eine Mischung aus beidem perfekt wäre…
Wir sind unterwegs, um einige Hunde auf das Gelände einer Kläranlage zurückzubringen. In Rumänien ist es häufig so, dass Hunde auf Industriegelände leben und von tierlieben Arbeitern versorgt werden. Richtig gehören tun sie aber niemanden.
Der Hund, den wir auf dem Weg dorthin sehen, sieht zwar aus wie ein Bernhardiner, aber hier tatsächlich von Rassen zu sprechen ist einfach unrealistisch. Welcher armer Bauer würde sich extra einen Rassehund aus der Schweiz kaufen? Man muss andersherum denken: Der Bernhardiner wurde aus Hunden gezüchtet, die bestimmte Merkmale hatten. Die Merkmale gab es also schon vorher. Sie wurden einfach nur selektiert und in Kombination Bernhardiner genannt.
Dass man dann Hunde sieht, die aussehen, wie Border Collie oder Münsterländer heißt also nicht, dass dort tatsächlich ein reinrassiger Hund drin steckt.
Mein letzter Tag im Tierheim ist nicht nur der Geburtstag Ninas, sondern auch besonders aufregend:
Mona bekommt einen Anruf, in dem es heißt, dass eine Anwohnerin des Dorfes in Albesti einen gehäuteten Welpen in ihrem Garten gefunden hat. Es wird die Polizei verständigt. Hier gehen wir nicht das Risiko ein, ohne Schutz in das Dorf zu gehen. Ich zögere kurz, ob ich wirklich für den Anblick, der sich mir bieten könnte, genug gewappnet bin. Aber im Endeffekt ist alles schon passiert, denke ich mir. Ob ich die Verletzung nun sehe oder nicht, es ändert nichts am Verlauf. Als wir in die besagte Straße abbiegen, ist die Polizei schon da. An die zehn Polizisten, die meisten Mitte 20 in Zivilkleidung mit einer schussfesten Weste, stehen schon bereit. Zusammen fahren wir weiter hoch zur Siedlung. Weil es sich durch den Polizeischutz so anbietet, schießt einer der Männer mit einem Betäubungsgewehr auch auf andere, scheuere Hunde, die wir zum Kastrieren mitnehmen.
Auch ich traue mich nach einiger Zeit wieder auf die andere Bachseite. Unter den betäubten Hunden ist die Mutter von den Welpen, die ich an meinem ersten Tag gefunden hatte. Natürlich nehmen wir auch ihre Kleinen mit. Ich freue mich total, alle sieben wohlauf zu sehen. Dabei bekomme ich nicht mit, wie der verletzte Welpe schließlich von Dobrin gefunden wird. Wir fahren sofort los. Als ich mich vom Rücksitz zum Kofferraum umdrehe, sehe ich die kleine, braune Hündin reaktionslos, aber mit offenen Augen auf der Decke liegen. Besonders auffällig ist ein riesiges, offenes Dreieck an ihrer Schulter. Das Fell ist blutgetränkt.
Wir kommen an. Der Welpe wird direkt zu Nina gebracht. Die Stimmung ist bei allen im Keller. Zu tief sitzt der Schock. Wie kann man ein anderes, noch dazu so wehrloses, Lebewesen derartig grausam verletzen? Mit welchem Ziel? Ich setze mich hin, um Pflaster zu schneiden, aber das fühlt sich nicht richtig an. Ich gehe raus, aber das reicht nicht. Ich beschließe, einen Spaziergang zu machen. Unterwegs rufe ich einen Freund an. „Es gibt so viel Schlimmeres auf der Welt“, sagt er. Ich weiß, es macht keinen Unterschied, dass ich jetzt hier dabei war und es mitbekommen habe. Überall passieren solch grausamen Dinge. Trotzdem fühle ich mich so leer.
Als ich wieder am Tierheim ankomme, erfahre ich, dass der Welpe offenbar nicht von Menschen, sondern von anderen Hunden verletzt wurde. Er ist übersät von Bissverletzungen. Einerseits bin ich beruhigt, dass zumindest hier kein Mensch die Schuld trägt und andererseits denke ich, dass solch ein Angriff mit Sicherheit viel weniger wahrscheinlich passiert wäre, wenn die Bedürfnisse der Hunde dort befriedigt gewesen wären.
Dobrin ist nach Erfahren der Nachricht ganz geknickt. Er hatte den Kindern nicht glauben wollen, als sie beharrten, dass nicht sie, sondern andere Hunde den Welpen angegriffen hatten.
Stundenlang operiert Nina an der kleinen Hündin herum. Als wir danach zusammen ihren Geburtstagskuchen essen, ist immer noch nicht sicher, ob die kleine Sampa überleben wird.
Auch erzählt mir Nina von einer weiteren Operation, die alles andere als entspannt verlief, als kurz vor Schluss der Hund mehrmals aufgrund einer Narkoseunverträglichkeit aufhörte zu atmen. Schließlich konnte er aber aus der Narkose geholt werden und es geht ihm wieder gut.
Abends sitzen wir Zuhause in der Küche und essen einen wunderleckeren veganen Rohkuchen. Der perfekte Abschluss nach einer Woche köstlichstem Essen und gemütlichem Zusammensitzens. Die kleine Hündin liegt in ihrer Box. Sie trägt einen dicken Verband. Tatsächlich wird sie sich sehr gut erholen und auch Lima findet eine Pflegestelle bei einer Tierärztin in Deutschland, die einen Operationstermin in einer auf Kieferchirurgie spezialisierten Klinik organisieren kann.
Ich blicke zurück auf eine ganz besondere Woche, die sich eher anfühlt wie drei. All die Unterhaltungen, Erlebnisse und neuen Eindrücke: mein Kopf ist voll mit Gedanken.
Und ich erinnere mich daran, wie ich nebenbei, in jeder freien Minute, ob im Hundezwinger, vorm Ofen im Wartezimmer oder auf der silbernen Box im OP, die Pflaster von einer Rolle zurechtschnitt. Nina wies mich darauf hin, dass es das Einzige ist, was der/die Hundebesitzer/in von der Operation sehen wird. Für mich war es eine höchst ehrenvolle Aufgabe, ein kleiner, aber wichtiger Teil von etwas ganz Großem: einer Kastration…
Nina und Gabriel, ich komme wieder!