292.500 Sekunden
Ein Bericht von Miriam Klann, Tiermedizinstudentin
292.500 Sekunden. Das sind 4.875 Minuten, 81,25 Stunden oder 3,39 Tage. In diesem Fall, ein ganzes Leben. Doch beginnen wir von vorne…
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Zurück zur Stunde Null, zur Geburt. An einem schwülen Frühlingsmorgen auf Kreta liegt eine Katze in den Wehen. Drei der insgesamt vier Kitten hatte sie bereits erfolgreich zur Welt gebracht, da schnappt nun auch das letzte, ein kleines weiß-schwarzes Wesen, nach Luft. Ihr viertes Baby war geboren. Der Wurf ist vollständig, putzmunter und gesund. Normalerweise widmet sich eine Mutterkatze nach der Geburt direkt der Pflege ihrer kleinen Welpen. Sie schleckt, beißt die Nabelschnur durch und animiert die Jungen so zum Trinken.
Die erste Milchaufnahme ist für alle Säugetiere die wichtigste. Die sogenannte Kolostralmilch enthält von der Mutter gebildete Antikörper, welche die Kleinen so lange vor Infektionen schützen, bis sie selbst eine ausreichende Immunabwehr entwickelt haben. Normalerweise… Diese frisch gebackene Mutterkatze ist nicht allein. Sie wird beobachtet. Schon die gesamte Geburt lang wurde geduldig abgewartet, um ja den richtigen Moment abzufangen. Noch bevor sie auch nur eines der Welpen abschlecken kann, werden sie ihr entrissen. Es geht ganz schnell. Ein ungeheuer gefährliches Wesen trennt die vier Babies von ihrer Mutter. Direkt nach der Geburt.
24:12:34
"Sie wurden direkt vor meinem Haus abgestellt."
Marga, Isabel und Miriam stehen um den kleinen Schuhkarton herum, den die Tierschützerin auf dem OP-Tisch abgestellt hatte. „Ich kam erst abends nach Hause, ich weiß nicht, wie lange sie schon dort gelegen hatten“, führt die Tierschützerin niedergeschlagen fort. Keiner traut sich etwas zu sagen. Wahrscheinlich kann auch keiner was sagen, so wissen doch alle im Raum Anwesenden, wie ernst die Situation ist. Sprachlosigkeit gepaart mit Fassungslosigkeit liegen in der Luft. Unterbrochen wird die Stille durch ein leises Quieken. Dieses stammt von dem Inhalt des kleinen Schuhkartons, dessen Inhalt wie durch ein Wunder, noch lebendig ist. Vier winzige, neugeborene Katzenbabies, plus deren Plazenten, mit denen sie immer noch per Nabelschnur verbunden sind, liegen in der Pappschachtel. Das gesamte „Paket“ ist fein säuberlich abgelegt auf einer blauen Decke. Vorsichtig streicht Marga mit dem Handrücken über das kleine, dreifarbige Mädchen, das am lautesten quiekt. Sie zuckt zusammen. „Die sind eiskalt“, murmelt sie. Man hört ihren Kloß im Hals sehr deutlich. Ironischerweise hatte sich das Dreierteam vom Tierärztepool auf der Fahrt zum Einsatzort in Sitia über die Flaschenaufzucht kleiner Welpen unterhalten, darüber, wie nervenaufreibend, anstrengend, aufwändig und häufig aussichtslos dies ist. Nun liegt ein kleiner Haufen Leben vor ihnen. Hoffnungslos, hungrig, unterkühlt, gerade einen Tag alt.
„Man muss sie direkt nach der Geburt von der Mutter genommen haben, sonst wäre doch die Nabelschnur durchtrennt.“ stellt Isabel geschockt fest.
„Das bedeutet auch, dass sie vermutlich kein Kolostrum aufgenommen haben“, ergänzt Miriam und spricht aus, was alle denken: „Wie haben sie bis jetzt überlebt?“
Wieder Stille. Das Kolostrum, also die Muttermilch, die voll mit Schutzstoffen gegen Keime von außerhalb ist und die Kleinen gegen Infektionen schützt, soll idealerweise in den ersten sechs bis zwölf Stunden aufgenommen werden. Die Aufnahmefähigkeit der Immunabwehrstoffe sinkt mit jeder weiteren Stunde. Die Lage ist ernst. Die Chancen ohne wirkliche Immunabwehr zu überleben, stehen schlecht. Enorm schlecht. Für einen kurzen Moment schwebt das Wort „Erlösung“ im Raum.
"Ich werde den Tag nicht mit vier Euthanasien beginnen. Wenn sie es bis hier geschafft haben, trotz allem, haben sie die Chance auf ein Leben verdient!"
Marga ist fest entschlossen. Ebenso ihre zwei Assistentinnen. Während Isabel ein Wärmekissen und die Aufzuchtmilch vorbereitet, hilft Miriam Marga beim Durchtrennen der Nabelschnüre. Diese vier kleinen Katzenbabys sollen leben, wollen leben und das Team ist fest entschlossen, alles daran zu setzen, dass dies auch geschieht.
Dennoch kreisen die Gedanken. Warum hat dieser Mensch die Katzenmutter gebären lassen, um ihr dann die Kinder zu entreißen? Wieso hat er sich die Mühe gemacht, sie in einen Karton zu betten und vor die Haustüre einer Tierschützerin zu legen? Was hat er sich dabei gedacht? Und warum hat er sie nicht direkt umgebracht, zum Beispiel ertränkt, wie es noch immer vielerorts der Brauch ist?
„Meine Lieben, wir sind jetzt Muddis – ran an die Arbeit!“ sagt Marga und lächelt.
72:08:53
Isabel kann ein Gähnen nicht unterdrücken. Sie sitzt auf dem Boden des OPs, hält das kleinste der vier Kitten in den Händen und versucht mit einer 1ml-Spritze etwas Ersatzmilch in den schlaffen Körper zu manövrieren. Zwei Tage und zwei Nächte in ständiger Sorge liegen hinter den drei Frauen. Alle zwei Stunden klingelt der Wecker. Alle zwei Stunden wird die Spritze erneut aufgezogen und versucht den Katzenwelpen auch nur ein paar Tropfen Ersatzmilch einzuflößen. Alle zwei Stunden wird das Wärmekissen erneuert. Alle zwei Stunden wird der Po der Kleinen massiert, um sie zum Kotabsatz zu animieren. Alle zwei Stunden…
Am Tag wird die Arbeit aufgeteilt, in der Nacht wechseln sich Miriam und Isabel mit den Diensten ab. So sind es immerhin vier Stunden Schlaf am Stück für jeden.
Das rote und das dreifarbige Mädchen haben den Dreh raus. Eifrig saugen sie an der Spitze der kleinen Spritze, fast 3ml schaffen sie schon pro Fütterung. Der „große“ schwarz-weiße Junge braucht ein wenig Überredungskunst, das Saugen hat er noch nicht so raus. Dennoch gehen mit der Zeit über 4ml in ihn hinein. Nur das kleinste, ein weiß-schwarzes Mädchen, ist das Sorgenkind der Truppe. Sie ist deutlich schwächer, ruhiger und weniger agil. Zum Essen muss man sie zwingen. Doch jedes Mal, wenn einer ausspricht „Jetzt geht es wohl zu Ende mit ihr…“ rafft sie sich wieder auf und nimmt einen Schluck. Sie kämpft um ihr Leben und so kämpfen die „Muddis“ mit ihr. Alle zwei Stunden.
In zwei Tagen (und Nächten) kann einem so ein Knirps schon sehr ans Herz wachsen. Der Schuhkarton ist immer mit dabei, fest unter den Arm geklemmt. Doch Menschen können Katzenbabys natürlich nicht das geben, was eine Mutterkatze kann. Schon gar nicht, wenn sie „nebenbei“ noch eine Kastrationsaktion am Laufen halten müssen. Als am letzten Tag der Aktion in Sitia eine Katze mit ihren fünf Jungen zur Kastration gebracht wird, treffen sich die Blicke von Marga, Isabel und Miriam wie abgesprochen:
„Das muss wohl Schicksal sein.“
Die Kinder der Katzenmutter sind doppelt so groß wie die vier verwaisten Babies, doch einen Versuch ist es wert. Während sie noch in Narkose liegt, legen Miriam und Marga die vier Babys bei der Mutter an die Zitzen. Wie bringt man Katzenkindern bei, an Zitzen zu saugen, wenn sie noch nie in ihrem so kurzen Leben die Möglichkeit dazu hatten? Das weiß keiner so genau. Die Lösung ist viel Geduld. Verwirrt und schreiend klettern die Vier auf der Brust der schlafenden Katze umher. Ebenso schreiend warten die fünf anderen Kitten in der Transportbox auf ihre Mama. Es sind mal wieder das rote und das dreifarbige Mädchen, die es zuerst verstehen. Eifrig saugen sie nach einer gefühlten Ewigkeit des Anlegens an den Zitzen. Der „große“ Kater braucht wie immer ein wenig mehr Überredungskunst. Nur das kleine Sorgenkind will einfach nicht richtig saugen. Isabel füttert es mit der Spritze, während die anderen sich in Ruhe bei ihrer zukünftigen Adoptivmutter satttrinken, bevor die neue Familie zusammengeführt wird. Sie wirken wie Fremdkörper. Gemeinsam mit der Katzenmutter liegen die vier Kitten in der Box und werden von den anderen fünf Babys, die bereits die Augen geöffnet haben, begutachtet. Sie sind stärker, keine Frage. Beim Kampf um die Zitzen haben die Findelkinder den Kürzeren gezogen. Doch was sie gewonnen haben, ist eine Mutter, die, als sie aus der Narkose aufwacht, wie selbstverständlich anfängt die Kleinen abzuschlecken. Wie sich das wohl anfühlen muss? Das erste Mal die Liebe einer Mutter zu spüren, selbst wenn es nicht die eigene ist.
Diese Katzenmutter hat genug Liebe, Milch und Wärme übrig - auch für neun statt fünf Babys.
81:15:23
Die Sachen sind gepackt und das Dreierteam inklusive Mamakatze und neun Katzenkindern sind im Auto auf dem Weg zurück ins NLR. Die Mutter wird mit ihren eigenen Babys in ein paar Wochen, sobald die Kleinen groß und stark genug sind, um ohne Mutter zu sein, wieder zurück zu der Tierschützerin ziehen, die sie gebracht hatte. Es ist bereits Abend, die untergehende Sonne färbt den Himmel orange. Miriam, die auf der Rückbank sitzt, hat die kleine Katzenfamilie gut im Auge. Die Mutter war bisher sehr lieb zu den vier Findelkindern gewesen und auch die schon vorhandenen Babys scheinen ihre neuen Geschwister zu akzeptieren. Ihr suchender Blick stockt bei dem weiß-schwarzen Sorgenkind. Reglos liegt es in der Ecke.
Schnell greift Miriam hinein und holt es raus. Es ist kalt und atmet schwer. Vorsichtig drückt sie das Kätzchen an sich, versucht es mit dem eigenen Körper aufzuwärmen und streichelt ihr über das Köpfchen.
Sie hält das schlaffe Wesen in ihren Händen, fühlt den schwachen Herzschlag zwischen ihren Fingern. Tränen steigen auf. „Bitte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Bitte.“, flüstert Miriam. Verschwommen sieht sie dabei zu, wie das Kleinste der vier Kitten seinen letzten Atemzug nimmt. „Die Kleine will sterben“, ruft sie panisch zu Marga und Isabel. Doch als sie das Kind nach vorne reicht, ist es bereits zu spät.
Das Leben entweicht aus dem winzigen Katzenkörper. Nach genau 292.500 Sekunden auf dieser Erde.
240:47:13
Nach exakt zehn Tagen beginnen die übrigen drei Kitten, lehrbuchmäßig ihre Augen zu öffnen. Die Erste ist, wie immer, das dreifarbige Mädchen, dicht gefolgt von ihrer roten Schwester. Der „große“ Kater lässt sich noch ein paar Tage mehr Zeit, bis auch er beginnt, die Welt durch kleine Katzenaugen zu erkunden. Ihn findet man nur noch zwischen seinen Adoptivgeschwistern, mit denen er sich angefreundet hat. Die Mutter kümmert sich rührend um ihre acht Katzenbabys. Damit sie auch genug Nahrung aufnehmen, bekommen die Findelkinder weiter Aufzuchtmilch zugefüttert, im Konkurrenzkampf sind sie den größeren fünf körperlich noch weit unterlegen.
384:52:36
Marga wusste, dass dieser Tag kommen würde. Nach dem Öffnen der Augen kommt es meist zu einem Abfall des Immunsystems bei Welpen. Eine sehr kritische Phase. Vor allem wenn man quasi keine maternalen Antikörper durch die Kolostralmilch aufnehmen konnte.
Das rote Mädchen wurde die letzten sechs Tage immer schwächer. Marga steht vor der Quarantänebox und beobachtet, wie es sich kaum fortbewegen kann. Sie will nicht mehr bei der Mama saugen und hat die gesamte Nacht lang auch die Milchaufnahme mit der Spritze verweigert. Von Anfang an hatte Marga vor dieser Situation gewarnt. „Wir sind erst über den Berg, wenn sie, nachdem die Augen offen sind, weiterleben“, hatte sie gepredigt. Nun ist es eingetreten.
Das rote Mädchen hat keine Kraft mehr zu kämpfen. Sie soll nicht leiden. Zu tief sitzt immer noch der Schmerz über den tragischen Verlust des ersten Welpen. So entscheidet sie sich für das Kätzchen und gegen einen qualvollen Tod. Nach einem 1.382.400 Sekunden langem Leben darf das rote Mädchen zu ihrer kleinen Schwester in den Katzenhimmel.
1224:14:27
Der Einsatz auf Kreta war bereits knapp zwei Monate her. Da vibrierte Miriams Handy. Eine Nachricht von Marga. Im NLR hatten mehrere Tiere, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, eine Giardien-Infektion entwickelt. Das sind Darm-Parasiten, die zu starken Durchfällen führen können und vor allem Welpen und Tiere mit schwachem Immunsystem gefährden. Beides trifft auf die zwei übrig gebliebenen Katzenkinder zu. Die Adoptivmama war mit ihren eigenen fünf Babys bereits zurück nach Sitia gezogen. Das dreifarbige Mädchen und der „große“ Kater, die bisher allen Schwierigkeiten getrotzt haben, kämpfen nun mit schlimmem Durchfall. Sie sind immer noch sehr klein und für ihr Alter unterentwickelt. Als am nächsten Morgen erneut eine Nachricht von Marga auf Miriams Display aufpoppt ahnt sie nichts Gutes. Das dreifarbige Mädchen wurde leblos in der Box aufgefunden. 4.406.400 Sekunden lang hatte sie um das Leben gekämpft und unterlag schließlich, trotz Behandlung der Mehrbelastung, den Folgen des Durchfalls.
Das gesamte Team hatte so sehr geackert, so sehr gebangt und getrauert. Die Hoffnung, dass es doch eines der vier Waisenkinder schaffen würde, die Hoffnung, dass sich all die Arbeit und die schlaflosen Nächte gelohnt haben, schwindet langsam.
2882:21:43
Übriggeblieben ist der „Größte“ der ursprünglich vier Katzenkinder. Der schwarz-weiße Kater, der immer etwas langsamer war als seine Schwestern, den man immer überreden musste. Auf dem Friedhof im NLR liegen drei kleine Kitten begraben. Der schwarz-weiße Kater aber lebt. Was keiner mehr für möglich gehalten hatte, ist eingetroffen. Er lebt! Es hat sich gelohnt. Jede Sekunde hat sich gelohnt.
Wahrscheinlich ohne es zu wissen, gibt Samuel (der zwölfjährige Chef des Katzenkindergartens und der Sohn unserer Tierärztin Melanie, die zum Schichtwechsel angereist war) ihm den perfekten Namen: „Maximo“ – der Größte.
Maximo überlebte die Giardien und auch sonst alle Widrigkeiten. Er freundete sich mit den anderen verletzten Katzenkindern an, die im NLR ein- und ausgegangen sind und wächst nun zu einem stolzen Kater heran. 120 Tage nach seinem ersten Atemzug darf er Kreta endlich verlassen.
In einer Transportbox liegt er zwischen den Füßen der anderen Flugzeugpassagiere und tritt tapfer seine große Reise nach Deutschland an.
120 Tage. Das sind 2.880 Stunden, 172.800 Minuten oder 10.368.000 Sekunden.
In Maximos Fall, der Beginn eines ganzen Lebens.