Corona - eine Analogie
Ich mache die Tür vorsichtig zu. Ich möchte den Welpen nicht aufschrecken. Er ist eingeschlafen. Vor Schwäche. Sein Körper zuckt nur noch hin und wieder. Der Atem geht schwer. Er ist der Dritte von einem Wurf mit 12. Zwei seiner Geschwister sind bereits gestorben. Auch ihn werde ich wahrscheinlich in wenigen Stunden nicht mehr lebend vorfinden.
Manchmal denkt man, dass man es nicht schaffen kann. Es sind einfach zu viele.
Im letzten Monat 32.
Der Feind ist unsichtbar, da winzig klein. Er ist tückisch und überall.
Ich halte das Geheimnis des Lebens in meinen Händen. Es ist das einzige, was ich habe. Meine Hände und das Leben darin. Stark und doch so fragil.
Noch einmal streift mein Blick über die Flugboxen, die als Quarantäne dienen. Sie sind schlecht zu säubern, isolieren die Tiere nicht wirklich, aber was anderes haben wir nicht. Das Desinfektionsmittel geht zur Neige und der Infusionsbeutel, den ich dem Welpen angehängt habe, ist der letzte. Bei allen anderen, die noch krank werden, muss ich zugucken wie sie sterben oder sie direkt einschläfern.
Das Infektionsgeschehen habe ich ernst genommen. Immerhin bin ich Arzt, wurde an einer Universität unterrichtet, habe Vorlesungen über Impfschemata gehört, den Einsatz von Desinfektionsmaßnahmen gelernt. Viren und Bakterien füllten ein ganzes Semester. Eigentlich bin ich fit. Dachte ich...
Was die Universitäten aber damals verschwiegen, war die Armut, das Desinteresse und damit die Realität außerhalb des Hörsaals einer globalisierten und damit einheitlichen, nicht zu desinfizierenden Erdoberfläche. Die Tatsache, dass Vieles theoretisch ist, proportional zur Entfernung vom Campus. Ich war weit weg von Laboren, von Impfungen, von Quarantänestationen, von allem, was mir helfen könnte. Ich arbeitete in einem Tierheim, 2500 km entfernt von deutscher, weiß strahlender, Sterilität. Im Dreck. Meine Patienten waren vorwiegend jung. Sie hatten ein kaum ausgebildetes Immunsystem. Muttermilch bekamen die wenigsten, demnach kaum Antikörper. Nach sechs Wochen kommt der kritischste Punkt. Ab jetzt müsste geimpft werden, aber dazu bräuchte ich Impfungen und selbst wenn ich die hätte, bräuchte ich gesunde Tiere. In ein Infektionsgeschehen hinein zu impfen bringt nichts, im Gegenteil, es verschlimmert den Zustand.
Meine Patienten quälten sich. Sie plagte unstillbarer Durchfall bei Parvovirose. Husten, eitriger Nasenausfluss und einiges mehr bei Staupe. Ich hatte keine Ahnung, wer es schaffen wird und wem ich einen Gefallen tue, wenn ich ihn einschläfere, weil er es eh nicht überlebt. Aber welcher?
Ich wollte Tiere retten und nicht umbringen oder zugucken, wie sie verrecken. Was ist das für eine Bürde, Arzt zu sein? Ich fühlte mich einsam, total fertig und ratlos. Schlaf bekam ich kaum. Ich arbeite rund um die Uhr und versuchte zu retten, was zu retten geht. Meine Ideologie vom Heilen war zu einer Triage geworden.
(Triage bezeichnet die Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, insbesondere bei unerwartet hohem Aufkommen an Patienten und objektiv unzureichenden Ressourcen).
Ich hätte das Tierheim in die Luft sprengen können. Der Infektionsdruck war extrem hoch. Logisch. Hier konnte nichts desinfiziert werden. Ich hätte ausgebildetes Personal und einen Raum, der tatsächlich eine Quarantäne ist, gebraucht.
Ich war froh, dass diese Viren ausschließlich von Tier zu Tier übertragbar sind und mein Leben zu keiner Zeit in Gefahr war. Aber ich wusste, ich bin bei einer Tröpfcheninfektion ein Überträger. Ich hatte lediglich einen einzigen Kittel, ich hätte bei jeder Behandlung aber alles wechseln müssen. Von meiner Haube, Mundschutz, Kleidung, Handschuhe bis hin zu den Schuhen. Meine Hände nach jeder Behandlung desinfizieren. Ich hatte aber nichts dergleichen. Der Verein war froh, wenn das Geld für das Futter reichte.
Gute Ratschläge von Besserwissern oder Gutmenschen begleiten bis heute meinen Alltag wie Durchfall und Erbrechen. Jeder mischt sich ein, manche auch physisch. „Der arme kleine Welpe, so ganz allein“. Sie streicheln über seinen Kopf und gehen zum nächsten. Werde ich laut, da der Ansteckungsgefahr völlig bewusst, bin ich der Blöde und unverzüglich auch ein schlechter und kaltherziger Arzt.
Wie man all das ändert? Keine Ahnung. Es waren ja schließlich keine Menschen, die da starben, es waren ja „nur“ Tiere.
Schauen Sie heute auf die Straßen, die Landesgrenzen, die Krankenhäuser und Sie können sehen, welche radikalen Maßnahmen ergriffen werden. Werden müssen!
Mit dieser Konsequenz, einer strikten Einhaltung seuchenrechtlicher Maßnahmen, viel Geld, einem enormen Aufwand und vor allem mit einem Wollen der bürokratisch Verantwortlichen hätten sehr viele Tiere ihren Todeskampf in meinen Händen nicht führen müssen. Ich brauchte aber zwei Jahrzehnte um das zu ändern. Letztendlich, weil die Seuchen nicht alles waren, was desaströs lief. All die Maßnahmen, die ich hätte durchführen wollen, zerronnen in meinen Händen, weil kein Geld da war. Ohne Geld gibt es keine Quarantäne, keine Impfungen, kein Personal, keine Infusionen und auch kein Futter. Wir mussten abwägen, was sinnvoller war; fressen oder impfen.
Oh Gott, was waren das für Zeiten!
Es hat sich viel geändert. Auch im Denken der bürokratischen Verantwortlichen. Aber leider sind die oben beschriebenen Zustände in vielen Gegenden Europas und der Welt immer noch traurige Realität. Bei uns im Verein nicht mehr. Zwar war ich oft gezwungen, jeden Cent dreimal umzudrehen, aber das änderte mein Ziel in keiner Weise.
Inzwischen sind wir bestens aufgestellt, haben in unserer Station die Möglichkeit, Tiere mit Virusinfektionen zu isolieren und zu behandeln. Wir haben Personal, das bestens ausgebildet ist. Jeder weiß genau, was wann zu tun ist. Wir besitzen sechs Quarantänekäfige. Aber es ist eine wirkliche Quarantäne! Sterilität an jeder Stelle. Mundschutz, Handschuhe, Kittel, Infusionen sind immer reichlich vorhanden. Davon habe ich damals geträumt als ich den Welpen Nummer drei einschläferte. Wir haben einen Hundetrakt, dessen Um- und Aufbau sechs Menschen über drei Monate in sommerlicher Hitze sehr viel abverlangt hat, der aber bestens in der Lage ist, Infektionen einzudämmen.
Ich wette, heute fragt keiner mehr, nach dem „Warum“.
In Anbetracht der aktuellen weltweiten Lage erscheint mir meine damalige Arbeit als ein Deja-vu. Erinnerungen werden wach, die ich am liebsten in der untersten Schublade vertrocknen lassen wollte. Damals erlebte ich als Einzelkämpfer mit gerade mal einer handvoll, fest neben mir stehender Tierfreunde, kaum eine wirkliche Unterstützung. Diese kam erst im Laufe der Jahre mit der Einsicht und vor allem der Sichtbarmachung der grausamen Zustände. Natürlich ersetzt unser Arche-Noah-Kreta-Report kein Veterinärmedizinstudium, aber wir schilderten die Problematik mit Emotionen aber auch dem nötigen Sachverstand. Es brauchte seine Zeit, aber wir veränderten Punkt für Punkt nach den gespendeten Möglichkeiten unser Arbeitsumfeld dahin, wo wir heute stehen.
Ich wünsche uns Menschen, dass die Einsicht für die jetzt einberufenen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie nachvollziehbar ist und jeder seinen Beitrag dazu leistet, aus der Krise gesund und halbwegs unbeschadet herauszukommen.
Auf Kreta arbeitet Dr. Marga Keyl mit Michelle Hoffmann, beide werden aber so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkommen, da wir davon ausgehen, dass die Gemeinden die Aktionen einstellen werden, was wir auch begrüßen. Für Notfälle steht eine andere Kollegin zur Verfügung, die die langjährigen Mitglieder unter Ihnen bereits kennen. An dieser Stelle bitte ich aber um Nachsicht, nichts zu verraten, was in Kürze als „Im Einsatz“ in ihrem Briefkasten liegen wird. Nina Schöllhorn ist noch in Rumänien unterwegs, wird dort bei „ihren“ Tieren bleiben und hilft, solange es irgendwie geht. Antonia Xatzidiakou und Sabrina Klüßendorf führen eine dreiwöchige Aktion auf Rhodos offensichtlich bis zum Ende durch. Ich telefonierte vor wenigen Stunden mit ihnen und erfuhr, dass es auf Rhodos noch keinen einzigen Corona-Fall gibt.
Von unseren Tierärzten und Assistenten weiß ich, dass sie, egal was kommt, für unsere Mitgeschöpfe da sind. Bringt aber bitte weder Euch oder andere Menschen in Gefahr!
Unsere Tiere sind alle versorgt und in Sicherheit.
Wer Fragen hat, scheue sich bitte nicht, diese an mich zu richten: chef@archenoah-kreta.com
Ihr Thomas Busch
Helfen
Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
Jeder bekommt eine Chance auf ein besseres Leben! All das wird nur möglich durch Ihre Spende!
In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.
In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:
Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer
TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de