Einsatz im Krisengebiet
Ein Bericht von Dr. Melanie Stehle, Tierärztin
Die Rotorblätter der Hubschrauber über unseren Köpfen verursachen einen unglaublichen Lärm. Fliegen sie ein Stück weg, hört es sich aus der Ferne an, als würde Sisyphus noch immer seinen Stein den Olymp hinaufrollen.
Alles um uns herum ist schwarz. Überall qualmt es und stinkt abartig.
„Ich glaube, wir sind hier nicht richtig“, meint Thomas, der das Auto einen steilen Berghang hinuntermanövriert. Wenn wir hier eingeschlossen werden, ist Feierabend, denke ich und bin für ein Umkehren.
Wir quälen den Wagen zurück auf die Hauptstraße, an der die Feuerwehrmänner einen riesigen Pool aufgebaut haben. Tankwagen füllen ihn permanent mit Meerwasser. Über diesem Pool „steht“ der Hubschrauber, der eben noch auf der anderen Seite des Tals war, und lässt seinen Rüssel hinab. Er saugt das Löschwasser gierig auf wie ein Kolibri den Nektar einer roten Blüte.
Immer wieder wurde auf Kreta in den letzten Tagen auf sämtlichen Handys vor Waldbrandgefahr gewarnt. Der Katastrophenalarm nahm auch auf die Nachtruhe keine Rücksicht und ertönte mit einem schrillen Weckruf, wenn die Brandherde im Umkreis von 10 km wüteten.
Doch dieser Brand hier ist anders. Er war an der Südküste ausgebrochen und hatte bereits 30 Quadratkilometer Land zerstört.
Die Hubschrauber versuchten zu verhindern, dass die Glutnester durch den starken Wind in weitere Nachbartäler getragen wurden. Auf der Seite des Tals, in dem wir versuchten, den Schafstall zu finden, war außer schwarzer Erde und verbrannten Olivenbäumen nicht mehr viel übrig.
Die Tierschutzszene war in Alarmbereitschaft. Generell empfinde ich den Zusammenhalt unterschiedlichster Menschen in Notsituationen mehr als beeindruckend. „Könnt ihr uns begleiteten?“ waren Roussa’s gefasste Worte, als sie mir erklärte, dass sie und einige andere Tierschützer aufbrechen würden, um nach tierischen Brandopfern zu suchen.
Wir sind als Tierärzte auf Unfallopfer, Verletzungen, Bisswunden oder Rettungseinsätze jeglicher Art vorbereitet, aber was zum Teufel erwartet uns in einem Feuergebiet? Fallen, Fangnetze, Boxen und drei große Kisten mit Notfallmedizin ließen unser Auto stöhnen, als wir in den Feldweg einbogen, den das Navi uns als Standpunkt von Roussa’s Team anzeigte.
„Lass uns umkehren, wenn wir hier eingeschlossen werden und der Qualm…“, wiederholte ich meine an Thomas gerichteten Worte so ruhig ich konnte. Bilder aus der Flammenhölle nördlich von Athen, in dem über 100 Menschen vor Jahren verbrannten oder erstickten, … Kopfkino!
Obwohl die Brände hier unter Kontrolle waren, können sie jederzeit wieder aufflammen.
Der Umweg über die Hauptstraße war annähernd frei, gesäumt von Feuerwehren und Polizisten in Alarmbereitschaft, die mit Feldstechern die Gegend nach neu aufflammenden Bränden absuchten. Entdeckten sie etwas Verdächtiges, schickten sie per Funk den Hubschrauber dort hin, der seinen Bauch direkt darüber ausleerte, um anschließend sofort neu aufzutanken und den Hang zum Nachbartal weiterhin feucht zu halten. Eigentlich gut organisiert.
Wir erreichen über Umwege das Dorf. Die Hilfskräfte hatten es tatsächlich geschafft, die Flammen fernzuhalten und das Grün der Bäume in der Ortsmitte wirkte irgendwie surreal zwischen all den verbrannten, schwarzen Baumstumpen ringsherum.
Die Gesichter, in die ich sah, waren mir bekannt. Wer Tiere zur Kastration bringt, schaut nicht weg, wenn eventuellen Feueropfern geholfen werden muss. Wir begrüßten uns herzlich, waren glücklich, ein großes Team zu sein, was die Anspannung ein bisschen niederrang und sprangen auf einen Pickup.
Während der Fahrt erzählte mir Roussa, welch großes Glück dieses Tal hatte. Während der Herfahrt und in meiner fantasievollen Vorstellung rechnete ich mit halb verkohlten Tierleichen und brennenden Hundehütten, vor denen die Angeketteten einen grausamen Tanz tanzten. Gott sei Dank blieben uns diese Bilder erspart. Bis das Auto vor dem Schafstall anhielt, den wir allein nie gefunden hätten.
Schafe sind Herdentiere und wenn ihr Anführer in die falsche Richtung läuft… alle hinterher. Leider war die Richtung, die das Leitschaf vorgab, die falsche und führte die Tiere direkt in aufloderndes Buschwerk. Die Folge für fast alle war angesengte Wolle, welche die Tiere gelb aussehen ließ. Sechs Tiere hatten Verbrennungen zweiten Grades erlitten. Sie hatten alle einen Schock, ähnlich wie der ältere Grieche, dem diese Herde gehörte.
Wir standen per Telefon mit zwei deutschen Großtierpraktikern in Kontakt, da Schafe wahrlich nicht zu unseren Standardpatienten gehören und die Dosierungen der Medikamente komplett anders sind. Ein Tier verlor während unserer Anwesenheit, sozusagen als Spätfolge der Hitze, das Horn einer Klaue, was ohne eine gute und intensive Pflege sein Todesurteil bedeutete.
Ich spürte während den Behandlungen permanent den Blick des alten Hirten in meinem Nacken. Unsere Blicke trafen sich einige Male und ich glaube, er ahnte, was ich dachte. Wozu kämpfe ich um den Erhalt dieser Leben, wenn ihre Tage doch eh gezählt sind und sie in naher Zukunft leblos am Haken hängen oder als Lammkottelets für wenige Minuten die Sinne einer hungrigen Touristenzunge oder die eines Einheimischen zufrieden stellen? In diesen Momenten betäube ich mich selbst, schalte um und funktioniere. Es ist wie bei einem Narkosezwischenfall, der mich zwingt, nicht zu denken, sondern in den routinierten Autopiloten einer Tierärztin zu schalten, die genau weiß was sie zu tun hat. Trotzdem blieb dieser Blick…
Andersherum sah der griechische Schafsbesitzer auch nicht so aus, als würde er in luxuriösem Reichtum leben. Diese Herde war vielleicht die Grundlage seiner eigenen Existenz. Und dass er recht liebevoll mit seinen Tieren umging, bewies er im Umgang mit den gelben Wollknäulen und nicht mit der bloßen Sorge eines vielleicht auftretenden finanziellen Verlustes. In seinen Augen erkannte ich Respekt und, wie mich Kreta schon an so mancher Stelle lehrte, einen natürlichen Umgang mit der Natur.
Wir besprachen mit ihm die weiteren Behandlungen und auch die Pflege des Tieres mit der verlorenen Klaue. Als wir uns verabschiedeten nahm er mich kurz zur Seite und ließ mir übersetzen, dass, falls das Schaf es überleben würde – und er versprach, alles so zu befolgen, wie ich es ihm erklärte – er das Tier ein Leben lang behalten und nicht schlachten würde.
Ein Raki besiegelte sein Versprechen und mir wurde warm ums Herz.
Nicht wegen der unerwarteten Schärfe des Alkohols.
Ihre Melanie