“Der wird vermutlich morgen tot sein”, meint Nina, als wir beobachten, wie er panisch über die Straße läuft.
Halte Dein Herz gut fest!
Von Miriam Klann, Tiermedizinstudentin
“Daran gewöhnt man sich”. Ein Satz, den ich mich zu unserer Praktikantin Sarah im aktuellen Rumänien Einsatz immer wieder sagen höre.
Wir gehen durch eines der unzähligen Tierheime hier. Sehen die vielen Hunde am provisorischen Gitter hin und her rennen. Wie viele Tiere hier eingesperrt sind, kann ich nicht beantworten. Man gewöhnt sich daran.
Dünne, abgemagerte Hunde und Katzen, verfilztes Fell, Narben, Wunden. Man gewöhnt sich daran. Alte Gespanne, die von dünnen Pferden gezogen werden und am Straßenverkehr teilnehmen. Die Hufe in katastrophalem Zustand, die Zuglast viel zu groß, das Geschirr nicht passend, Rücken und Maul wundgerieben. Man gewöhnt sich daran. Wir fahren durch die Straßen, entdecken an jeder Ecke eine Fellnase, durchqueren die armen Romadörfer. Wir sehen, wie an der nächsten Schnellstraße ein neuer Hund ausgesetzt wurde. “Der wird vermutlich morgen tot sein”, meint Nina, als wir beobachten, wie er panisch über die Straße läuft. Man gewöhnt sich daran… Was rede ich da eigentlich?
Gewöhnen wir uns wirklich an den Anblick von Leid und Elend, von Armut und Hoffnungslosigkeit? Wird es zur Gewohnheit, diese schrecklichen Bilder zu sehen? Sind wir mit der Zeit abgestumpft?
Beim Spaziergang mit Ninas Hunden kommt uns ein Wagen entgegen. Er ist voll beladen mit trockenen Ästen, ein altes Pärchen sitzt vorne, gezogen wird das ganze von einem kleinen Esel, ganz allein. Er ist so langsam, dass wir ihn auf dem Rückweg sogar überholen.
“Da muss man sein Herz gut festhalten“, meint Nina. “Immerhin habe ich nie gesehen, dass sie ihn schlagen.“ Nein, man gewöhnt sich nicht daran! (Zumindest nicht, wenn man nicht damit aufgewachsen ist). Wir halten nur unser Herz ganz fest. Jedes Mal, wenn man an den verlorenen Seelen im Tierheim vorbeigeht, drückt man es fester, jedes Mal, wenn man ein totes Tier am Straßenrand sieht, krallt man sich weiter daran fest. Fast krampfartig drückt man es, hält es, weil man zu gut weiß, was passiert, wenn man es loslassen würde. Das bedeutet nicht, dass es nicht weh tut, dass der Schmerz, den man empfindet, mit der Zeit weniger wird. Die schockierten Augen unserer Praktikantin sprechen Bände, sie hat ihr Herz (noch) nicht gut genug festgehalten. Egal wie viel man erzählt und warnt, sie wusste nicht, worauf sie sich einstellen muss, was auf sie zukommen wird. Es ist keine Gewohnheit, es ist der Klammergriff um das Herz, durch den man lernt, damit umzugehen, einen Weg zu finden, all die Eindrücke auszuhalten. Er ermöglicht aber auch, das Gesehene umzuwandeln in Energie, in Ausdauer, in Empathie und den Willen, irgendetwas zu tun, um diese Situation zu verändern. Gegen das Leid anzukämpfen, jeden Tag. Sich der Realität zu stellen, nicht wegzuschauen und von dem, was wir erleben, zu erzählen. Es hilft, dass wir helfen können. Dass wir die Ressourcen haben, sowohl materiell und finanziell, als auch emotional. Dass wir zwischen den schrecklichen Bildern auch gute sehen dürfen, dass es Erfolgserlebnisse gibt, dass es Menschen in Deutschland gibt, die uns den Rücken stärken. So können wir ab und zu das Herz ein bisschen loslassen, es schlagen lassen.
Doch so lange die Welt da draußen für die Ärmsten unserer Gesellschaft noch so aussieht, halte ich mein Herz gerne weiter fest.
Für diejenigen, die unsere Hilfe und Zuneigung brauchen. Gestern, heute und morgen.