Hurra, meine Genehmigung ist da!
Von Julia Gruhn, Tierärztin
„Wie viele Tiere können wir dir und deinem Team pro Tag zur Kastration bringen?“ - nun ist es also so weit, dass mir diese Frage gestellt wird!
Mehr als fünf Jahre habe ich darauf hingearbeitet, diese Frage beantworten zu dürfen. In dieser Zeit der Ausbildung - überwiegend auf den Kapverden - habe ich das chirurgische Alphabet gelernt: Fingerfertigkeiten geübt, Ligaturen gesetzt, Wunden genäht, Blutungen gestillt, geflucht, geschwitzt, geweint und gejubelt. Es war nicht immer einfach, aber jeder Einsatz hat mich weiter zu meinem Ziel gebracht, alle Operationstechniken so zu beherrschen, dass ich ohne eine erfahrenere Chirurgin an meiner Seite loslegen kann. An diesem Punkt war ich Ende letzten Jahres. Danke Marga und Melanie, dass ich an eurer Seite lernen durfte.
Anstatt diesen Erfolg zu feiern, war die Frustration am Höhepunkt, denn noch immer wartete ich auf meine griechische Arbeitsgenehmigung, ohne die es für mich illegal ist, in Griechenland tierärztlich zu praktizieren. Seit zweieinhalb Jahren lagen meine Dokumente auf der griechischen Behörde für die Genehmigung ausländischer Hochschulabschlüsse. Es fehlte lediglich eine einzige Unterschrift auf einem einzigen Dokument. Etliche Anrufe und jeglicher Druck haben nichts genützt - uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Bis am sonnigen Freitagnachmittag des 26. Mai mein lautestes Jubeln ertönte - das unterschriebene Dokument, meine griechische Arbeitsgenehmigung, war in meinem Postfach eingetroffen. Es konnte also endlich so richtig losgehen!
Prompt stand der erste Einsatz an. Allein! Was bedeutet allein? Natürlich geht so eine Kampagne nicht allein. Um einen Einsatz zu stemmen, bedarf es vieler Helfer/-innen in unterschiedlichsten Positionen. Da sind die Personen an der Front, eine Tierärztin und in der Regel eine Assistentin, genauso wichtig wie alle, die im Hintergrund arbeiten: Tiere einfangen, die Nachsorge betreiben und die Infrastruktur organisieren. Im Team des Fördervereins Arche Noah Kreta e.V. gibt es die „Muttis“, die die Einsätze leiten und die „Kinder“, die die Einsätze begleiten. Alle zusammen, Hand in Hand. Allein bedeutet in diesem Fall also die „Mutti“ zu sein, die Augen und Ohren überall gleichzeitig zu haben, für alle Probleme eine Lösung zu finden, Entscheidungen zu treffen, die Verantwortung für das ganze zu tragen und auf alle Fragen eine Antwort zu haben.
Wie beantworte ich die erste Frage: wie viele Tiere sollen es sein, an einem Tag? Natürlich so viele wie möglich! Aber die Vernunft sagt: besser nicht zu viele! Ich muss mit meinen Kräften gut haushalten, denn wir sind für vierzehn Operationstage angereist. Auch meine Konzentrationsfähigkeit muss ich realistisch einschätzen: Jedem Tier steht die gleiche Sorgfalt zu, egal ob morgens als erstes - oder spätabends als Letztes auf dem OP-Tisch. Dazu kommt, dass ich ausreichend Zeit für Behandlungen einplanen muss. Neben den Kastrationen werden auch chirurgische Notfälle gebracht, deren Versorgung mit griechischen Kollegen abgesprochen werden muss, denn die ausgemergelten Kranken und die Verletzten gehen oft am schnellsten in die Fallen. Sie sind für unseren OP-Zeitplan unberechenbar. Sicher ist lediglich, dass sie kommen und dass sie mehr Zeit beanspruchen als die Kastrationen.
Anders als in einer Praxis, in der die Tiere mit ihren Besitzern kommen, die ihr Tier genau kennen, alle Auffälligkeiten ansprechen und Symptome beschreiben, muss man im Tierschutz auf die Anamnese verzichten. Man hat lediglich eine Momentaufnahme und eine kurze klinische Untersuchung, um sich ein Bild vom Patienten zu machen. In kürzester Zeit müssen viele Fragen zum Gesundheitszustand des Tieres beantwortet werden: Ernährungszustand? Pflegezustand? Schleimhaut? Wie ist der Kreislauf? Augen? Kann das Auge erhalten bleiben? Ohren? Muss der Ohrrand wegen des Karzinoms amputiert werden? Zähne? Muss der Zahn mit dem Loch hinter Zentimetern von Zahnstein gezogen werden? Atmung? Gesäuge? Wann hat sie geworfen? Ausfluss? Durchfall? Sichtbare Parasiten? Beide Hoden vorhanden? Alter? Sonstige Auffälligkeiten? Wunden? Verdacht auf Infektionskrankheiten? Fazit: ist das Tier narkosefähig oder nicht? Muss neben der Kastration eine weitere Behandlung durchgeführt werden? Muss das Tier weiterhin überwacht werden?
Zu jedem Tier spulen sich circa zwanzig Fragen im Kopf der Ärztin ab, bevor überhaupt das Skalpell in die Hand genommen wird. Zehn weitere Fragen folgen, sobald der Patient auf dem OP-Tisch liegt: Was erwarte ich bei der OP? In welchem Zustand sind die Organe? Welche Operationstechnik ist in diesem Fall geeignet? Wie ist die Narkosetiefe?
Ich merke, wie viel Verantwortung auf meinen Schultern liegt, denn ich bin die Sachverständige und diese Fragen muss ich nun allein beantworten. Und zwar in wenigen Sekunden, denn die Narkosezeit soll so kurz wie möglich gehalten werden und außerdem ist das nächste Tier meist bereits sediert. Die Fragenschleife beginnt von vorn.
Zum Ende der OP drängt sich oft, als hätte man nicht bereits genug Fragen beantwortet, diese eine, komplizierte, Frage auf: wie steht es um die Zukunft von meinem Patienten?
Der kleine schwarze Hund, der schüchtern mit dem Schwanz gewedelt hat, als er zur Tür hereinkam und beschwichtigend, schmatzend sein Köpfchen auf das Bein der Assistentin gelegt hat, als sie den Venenzugang geschoben hat, kommt zurück auf den dreckigen Tierheimboden, ohne Decke und jeglichen menschlichen Kontakt? Von wegen, jetzt ist es meiner, aber das verrate ich niemandem.
Das zutrauliche, höchstens zehn Wochen alte Katzenbaby, dem die durch Katzenschnupfen zerstörten Augen herausgenommen werden mussten, wird blind wie es nun ist, zurück auf die Straße entlassen, wo der sichere Tod wartet?
Haben wir nicht bis hierher genug zum Wohle des Tieres getan? „Ja!“, wäre die einzig realistische Antwort. Aber: „Nein!“, wie toll wäre es, auch dafür eine Lösung zu finden.
Das blinde Katzenkind ist der kleine Fridolin, der bei diesem Einsatz zu uns kam. Seine beiden Augen waren von den Viren und Bakterien des Katzenschnupfen-Komplexes zerstört. Mit allen Mitteln haben wir versucht, wenigstens ein Auge zu erhalten, mussten jedoch kapitulieren und ihm letztendlich beide Augen entnehmen, um ihn von seinen Schmerzen zu erlösen. „Er kann zurück, wo er herkam. Eine Futterstelle mit zwanzig Katzen, bei einem Haus an der Straße.“ Dem Team sträubten sich die Haare, denn der kleine Kerl war uns schnell ans Herz gewachsen. Ich war zunächst sehr skeptisch, ob sich jemand finden wird, der sich seinem Schicksal annimmt. Ich wurde überrascht, denn in Windeseile hatte ich gleich mehrere geeignete Adoptionsangebote. Glück für unseren nächsten blinden Neuankömmling auf der Station, so konnte auch der kleine „Bucky“ direkt ein blindensicheres zu Hause finden. Die Bearbeitung der Frage nach der Zukunft kostet zwar besonders viel Energie, aber am Ende lohnt sie sich ganz besonders. Vielen Dank an dieser Stelle an alle unsere Adoptantinnen und Adoptanten in diesem Jahr, denn nur mit eurer Hilfe lässt sich dafür eine Lösung finden. Danke!
Mein erster Einsatz ging nach zwei anstrengenden Wochen erfolgreich zu Ende und ich bin stolz darauf, alle Fragestellungen gelöst zu haben. Ich freue mich nun auf ein paar Tage ohne Fragen, die von mir beantwortet werden müssen. Ganz ohne Fragen kommt man jedoch nie zurück. Es sind nicht die medizinischen, sondern die nach der Zukunft meiner Patienten. Ich versuche, dass mich diese Gedanken nicht zermürben, sondern sehe sie als Motivation, weiterzumachen und freue mich auf den nächsten Einsatz, der wieder mit derselben Frage beginnen wird: „Wie viele Tiere dürfen wir dir und deinem Team an einem Tag bringen?“
Mit jedem Einsatz und mehr Erfahrung werden es ein paar mehr Tiere sein, denn nun, mit offizieller Genehmigung, kann es endlich so richtig losgehen!
Eure Julia Gruhn