Adrenalinpegel
Ein Bericht von Dr. Melanie Stehle | Tierärztin
Der Rückflug ist immer am schlimmsten und am schönsten zugleich.
Diese Ambivalenz ist leicht zu erklären. Vor und erst recht während der Einsätze ist die Anspannung extrem hoch. Meine Adrenalinkurve steigt von Tag zu Tag und flacht erst dann wieder ab, wenn es zurück nach Deutschland geht. Dem Tierarzt, in den 14 Tagen des vor mir liegenden Kreta-Einsatzes also mir, obliegt die komplette Verantwortung. Für sämtlichen Papierkram mit den Behörden, in deren Gemeindeklinken wir arbeiten werden, für die Organisation vor Ort, für das Zusammenstellen des Equipments bereits Wochen vor dem Einsatz (in Zusammenarbeit mit den Assistenten), für das „Anliefern“ der Tiere (in enger Absprache mit den Tierschützern vor Ort) und selbstverständlich für das Leben vor mir auf dem OP-Tisch. Kleinste Fehler bei der Dosierung der Narkose können schwerwiegende Folgen mit tödlichem Ausgang haben. Wir Tierärzte sind auf gut ausgebildete Assistenten und Helfer angewiesen. Aber jeder muss „es“ mal lernen und so begleitet mein Team auch immer wieder ein „Neuling“, den ich besonders im Auge behalten muss. Macht er was falsch (und er macht was falsch!), muss ich das sehen und korrigieren. Meine Augen sind also nicht nur auf die OP vor mir gerichtet, sondern blicken wie ein Radar ständig in alle Richtungen. Keine blauen Schleimhäute, kein Atemaussetzer, keine Herzstörung dürfen mir entgehen. Nach der OP muss jedes Tier wieder in die speziell gekennzeichnete Box zurück, in der es gebracht wurde, weil ansonsten ein Zurückbringen an den ursprünglichen Ort nicht möglich ist. Natürlich darf im Vorfeld auch nichts vergessen werden. Fehlen Skalpelle, ist die Aktion bereits beendet, bevor sie begonnen hat.
Diese Prozesse stressen mich, auch oder gerade weil es endlos viele Menschen gibt, die ebenfalls mit an diesen Einsätzen arbeiten. Es sind Tierschützer auf der Insel, die in dieser Zeit alles stehen und liegen lassen, nur um Katzen einzufangen, Hunden hinterherzujagen, die oft von ihrem eigenen Geld das Benzin bezahlen, weil es viele Kilometer zu fahren gibt. Sie bereiten den OP-Raum vor, telefonieren fast den ganzen Tag mit Menschen, die ein krankes oder verletztes Tier gesehen haben, ja, manche von ihnen kochen sogar für uns vegetarische Köstlichkeiten.
Die meisten kenne ich seit Jahren, sie sind mir ans Herz gewachsen und sie zu enttäuschen wäre eine persönliche Niederlage, die ich auf keinen Fall zulassen kann. Die Adrenalinkurve steigt weiter.
Am Ende der Operationstage, meistens spät abends, folgt die Visite in der Station. Manche von uns aufgenommene Patienten haben eine 50-prozentige Chance zu überleben. Sie sind extrem schwer krank oder verletzt. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, eine Entscheidung zu fällen?
Schlafmangel gesellt sich dazu. Die Nerven werden dünner. Trotzdem muss das Team zusammenhalten. 14 Tage lang. Viele Stunden täglich.
Und genau das tut es!
Wir „alten Hasen“ kennen uns seit über einem Jahrzehnt. Wir haben schon viele Klippen gemeinsam gemeistert. Wir wissen, dass wir uns aufeinander blind verlassen können. Jeder hat eine spezielle „Arche-Ausbildung“ durchgemacht und kennt das Prozedere der Einsätze in- und auswendig. Wir sind im klassischen Sinne keine Angestellten, die für irgendeinen Chef arbeiten, sondern wir erfüllen uns mit dieser Arbeit den Traum des Helfens. Unseren Lebenstraum, der uns anspornte, das lange und wahrlich nicht einfache Studium zu bestehen. Da spielt der Feierabend keine Rolle, Sonntage sind Wochentage. Es geht vielmehr darum: hat Rosi heute Morgen gefressen? Sie war völlig abgemagert und nimmt langsam zu. Manni braucht einen Verbandswechsel, die Wunde nässt. Und die winzigen Katzenwelpen mit ihren verklebten Augen kommen nicht zurück an die Mülltonne! Sie bleiben in der Station. Wäre doch gelacht, wenn wir die nicht vermittelt bekommen.
Aber noch etwas, was in der letzten Zeit stark zugenommen hat, rührt uns sehr. Es ist die Anteilnahme immer mehr Griechen. Der alte Herr, dessen leicht verwahrlostes Aussehen auf keinen Reichtum hindeutet, bedankt sich überschwänglich, dass wir „seinen Mülltonnentieren“ helfen. Wahrscheinlich hat er seinen ganzen Garten abgeerntet, denn er überreicht uns tütenweise Obst und Gemüse. Alles bio, auch die Weintrauben, betont er mehrmals. Mitfühlende Griechen kümmern sich mehr um die Tierpopulation um ihr Haus herum als jemals zuvor. Kommen wir früh morgens an Geschäften vorbei, kann es sein, dass der Ladenbesitzer herausgestürmt kommt und sagt, dass er uns kennt. Er hat uns neulich im Tierheim der Gemeinde gesehen. „Großartig, was wir tun.“
In genau diesem Tierheim war neulich eine Schulklasse zu Besuch. Natürlich haben wir die Kinder in den OP gelassen, ihnen näher gebracht, was wichtig im Umgang mit Tieren ist. Und sie haben interessiert zugehört.
Auch der ältere Herr, der plötzlich in der Tür stand, war sehr freundlich. Er kam ohne Polizeiaufgebot, wie wir es noch vor nicht allzu langer Zeit häufiger erlebten (und je nach Region immer noch erleben). Er schaute sich alles an, nickte zustimmend und bat uns lediglich, keine Privattiere zu kastrieren (was wir auch nicht tun – siehe Programm mit den ortsansässigen Tierärzten in Rethymno). Es war der Amtsarzt von Chania. Wir kannten uns bisher nur über den bürokratischen Genehmigungsweg, nie persönlich, was nun endlich nachgeholt werden konnte.
Die Feindschaften der vergangenen Jahre scheinen tatsächlich komplett eliminiert zu sein. Kollegialität und das Erkennen, dass das existierende Problem wesentlich effektiver gelöst werden kann, wenn man miteinander und nicht gegeneinander arbeitet, scheint in den meisten Köpfen angekommen zu sein.
Nun bin ich auf dem Heimflug. 12 Operationstage liegen hinter mir. 469 Tiere sind operiert worden. Unsere neue griechische Kollegin Anna, mit dem unaussprechlichen Nachnamen Papadimitrakopoulou, kam von Thessaloniki im Norden Griechenlands nach Kreta gereist. Es war die letzte Runde, die wir gemeinsam operierten. Anna ist nun ausgebildet. Sie ist eine sehr gute Chirurgin geworden, die ich als junge Tierärztin vor einem Jahr in Nordgriechenland kennenlernen durfte. In sechs sehr, sehr harten Einsätzen habe ich ihr alles beigebracht, was sie können muss, um sicher zu operieren. Nun ist sie so weit und ich bin mindestens genauso stolz auf sie, wie sie selbst. 47 Operationen bei diesem letzten gemeinsamen Einsatz gehen auf ihr Konto, bei denen ich nichts, aber auch gar nichts zu beanstanden hatte. Anna ist sehr ehrgeizig, zielstrebig, ruhig, auch in komplizierten Situationen und hat extrem schnell gelernt. Sie segelt nun in Veria unter der Arche Flagge und niemand, der die Situation dort von Beginn an nicht selber erlebt hat, kann nachvollziehen, wie glücklich ich darüber bin. Als ich 2016 von Veria nach Hause flog, habe ich geweint, weil die Situation der Tiere dort einfach nicht zu ertragen war. Aber ich blieb hartnäckig. In winzigen Schritten gelang es mit Hilfe vieler Tierfreunde, die Zustände zu verbessern. Damals wurden kranke Tiere nicht einmal erkannt und starben elendig dahin. In ein paar Tagen wird dort eine von mir ausgebildete und vom Förderverein bezahlte Tierärztin die Verantwortung vieler Operationen und Heilungsprozesse übernehmen. Ich werde Anna immer zur Seite stehen und freue mich so sehr, dass ich schon wieder weinen könnte. Aber diesmal vor Freude.
So ist die anfangs erwähnte Ambivalenz zu erklären und als die Flugzeugräder den Boden in München berühren, ist das Adrenalin aus meinem Körper fast verschwunden.
Bis morgen, denn nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz, welcher in wenigen Tagen beginnt.
Eure Melanie
Anna
Ich freue mich, mich Ihnen heute vorstellen zu dürfen. Im November 2021 trat ich meinen achtmonatigen Arbeitsvertrag als Tierärztin im städtischen Tierheim von Veria an.
Neben all den Verwaltungsaufgaben und der Betreuung der Tierheimhunde gab es kaum Zeit, Straßentiere zu kastrieren. Doch eigentlich war dies meine Passion, weshalb ich diese Stelle angenommen hatte. Von klein auf wollte ich Tierärztin werden und es machte mich schon immer sehr traurig, Straßentiere, vor allem Katzen, leiden zu sehen.
Wie es der Zufall wollte, lernte ich Melanie während eines Kastrationseinsatzes in Veria kennen. Zukunftspläne reiften und so entschlossen wir uns gemeinsam, dass ich zukünftig für den Tierärztepool arbeiten und so viele Straßentiere wie möglich kastrieren werde. Stets in der Hoffnung, dass es irgendwann keine mehr geben wird.
Helfen
Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
Jeder bekommt eine Chance auf ein besseres Leben! All das wird nur möglich durch Ihre Spende!
In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.
In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:
Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer
TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de