Chito - Herbst 2020

Es sind die Momente, die für einen Tierarzt spannend sind. Spannend, weil außergewöhnlich, fordernd, aber Gott sei Dank, selten vorkommend.

Wäre es zerbrochenes Holz, welches wieder verleimt werden müsste, ein verunfalltes Auto oder ein geplatztes Wasserrohr, das repariert werden müsste, wäre die Spannung schön.

Dieser hier vor uns atmete aber, war in einen Schockzustand gefallen und hatte eine dermaßen schreckliche Verzweiflung in seinem Blick, dass wir an einen „interessanten“ Fall überhaupt nicht denken konnten.
Der junge Hund vor uns war wohl irgendwie unter einen Zug geraten und sein Hinterbein hatte die knöcherne und muskuläre Verbindung zum restlichen Körper komplett verloren. Das zerfetzte Bein hing lediglich noch an einem Hautlappen. Das alleine wäre mit einer Amputation zu beheben gewesen, allerdings stellte sich in der Narkose auch ein Bruch des Sprunggelenkes an dem anderen Hinterbein heraus. Ohne Hinterbeine ist das Leben eines Vierbeiners besiegelt.

Zuvor kontaktierten wir Dr. Gudrun Bolln in Deutschland, unseren Joker bei extrem schwierigen Knochen-OP´s. Ihre Antwort: „Die Chancen stehen 50/50t. Amputiert und schickt ihn mir her, das Sprunggelenk versuchen wir dann hier zu retten.“

Wir schauten uns an. 50/50. Verzweiflung. So ein süßer Welpe. Als Gudi erneut schrieb mit den Worten: „In Eurer Haut möchte ich nicht stecken, bei dem, was Ihr dort alles entscheiden müsst.“  Jetzt brach der Damm, die erste Träne fiel auf den Boden und steckte das ganze Team an. Jeder drehte sich weg, um sich des peinlichen gemeinsamen Moments zu entziehen. Momente der Verzweiflung,  aber plötzlich war der Wille wieder da. Aufgeben? Wir? Da muss schon was Dickeres kommen als ein Zug.

Ich amputierte und entdeckte bei der gründlichen Untersuchung des verbleibenden Hinterbeines, dass die Achillessehne am Sprunggelenk mit einem Knochenstück abgerissen war.
Wieder kam diese Verzweiflung hoch, aber jetzt war der erste Schritt vollzogen. Der Zwerg wachte auf und sagte bei sämtlichen Verbandswechseln keinen Ton. Kein Knurren, kein Widerstand, nur ein vertrauensvoller Blick in unsere Augen.
Sein Zug des Schicksals bremste, kam zum Stehen und fuhr langsam zurück…

Rabea, eine freiwillige Helferin wurde seine persönliche Betreuerin. Sie bastelte ein Tuch, hängte es unter seinen Bauch und wie in einer Hängematte konnte Chito (das heißt „tapfer“) sein Geschäft erledigen. Ein Stützverband schützte das zerstörte Sprunggelenk. "Den päpple ich bis er fliegen kann“, sagte sie und drückte Chito an sich, was ihm offensichtlich mehr als gut gefiel. Chito flog mit Sabrina nach Deutschland, wurde von ihr zur Klinik gebracht und die nächsten zwei Monate intensiv versorgt. Die verordnete Boxenruhe war eine große Herausforderung für das Hundekind, dennoch der Schlüssel für ein glückliches Hundeleben und Chito machte abermals seinem Namen alle Ehre.

Auch wenn wir oft Angst vor unseren eigenen Entscheidungen haben, auch wenn solche Unterfangen ein großes Risiko tragen, dass am Ende doch kein Happy End möglich ist, auch wenn der Aufwand gigantisch ist, so werden wir immer dort helfen, wo wir es verantworten können.

Viele zusammenhaltende Hände haben Chito zurück in sein Leben geholt. Chito weiß nicht, dass er ein Handicap hat, genauso wenig, wie seine Kumpels. Die Achillessehne konnte wieder fixiert werden. Es fehlt „lediglich" der Teil des anderen Beines, welche nicht zu rekonstruieren war. Eine Prothese hilft ihm beim Gehen. Er hat sich zu einem ansonsten gesunden Hund entwickelt, der sein Leben in vollen Zügen (was für ein schönes Wortspiel) genießt. Er spielt, tobt, geht spazieren und hat vergessen, was das böse Schicksal ihn erleiden ließ.
Und was ist mit uns? Wir sind wieder einmal stärker geworden, wissentlich, dass es unsere Tränen inzwischen schon mit Zügen aufnehmen können.

Danke an Hannelore von „A.C.E. - Tiere in Not e.V.“, Du hast stets an Chito geglaubt und Ihr habt alle Kosten getragen. Danke an Dich, Gudi, Du stärkst uns den Rücken in Situationen, in denen wir jemanden mit klaren Gedanken und exzellentem Fachwissen benötigen. Danke an Lilly, die Chito an den Gleisen einsammelte wie so viele, die ansonsten keine Chance hätten. Danke Sabrina, Du stellst Deine Bedürfnisse stets hinten an zum Wohle Deiner Schützlinge und zu guter Letzt danke Dir Inga. Bei Dir und Deinem Hunderudel darf Chito nun seine Hundekindheit genießen, bis sein endgültiges Zuhause gefunden ist.
 
Eure Melanie Stehle