Skip to main content Skip to page footer

Tyrnavos Oktober 2018

Ein Bericht von Miriam Klann

Es ist morgens, sehr früh morgens, als mein Vater mich am 13.10.2018 zum Münchner Flughafen fährt. Ich bin ungewöhnlich still. Unzählige Gedanken schwirren in meinem Kopf umher. Immer und immer wieder gehe ich das gestrige Telefonat mit Doris, der Vorsitzenden der Tierinsel Umut Evi e.V. durch und wiederhole alles Wichtige leise.

Ja, am Ende des Tages schmerzen die Knie, brennen die Fußgelenke und knackst der Rücken, aber all das lohnt sich. Es lohnt sich allein für diesen einen Moment, wenn die Hunde langsam erwachen. Sie den Kopf heben um kurz darauf freundlich mit dem Schwanz zu wedeln. Es ist, als würden sie instinktiv spüren, dass sie in Sicherheit sind und ihnen nichts Schlimmes passieren wird.

Das war schon eine verrückte Idee, mich, nachdem ich dieses Jahr mein Abitur geschrieben hatte, nicht für ein Studium oder eine Ausbildung zu bewerben, sondern ein Jahr "Lern-Pause" zu nehmen. Ich wollte mir einfach Zeit für mich nehmen, Zeit zum Durchatmen, Zeit um mir Gedanken über meinen weiteren beruflichen Weg zu machen, Zeit zur persönlichen Reifung. Mein Plan war, etwas zu machen, was mich persönlich weiterbringt, mich erfüllt und einen Nutzen hat.

Denn wenn nicht jetzt, wann dann?
Wieviel ich letztendlich in diesem "lernfreien" Jahr lernen werde, konnte ich nicht ahnen.
Schon länger habe ich verschiedene Tierschutzorganisationen verfolgt, welche Tieren helfen, die auf der Straße leben. Schnell war mir klar, dass ich genau das machen möchte: Den meist hilflosen Tieren, die nichts für ihr Schicksal können, eine Chance geben. Das war mein großer Wunsch. Ich liebe Tiere, hatte allerdings noch keinerlei Vorkenntnisse, was Tiermedizin betrifft. Dennoch war ich so von dem Gedanken überzeugt, dass ich mich kurzerhand beim Förderverein Arche Noah Kreta e.V. für ein Praktikum beworben habe.
Zu meiner eigenen Überraschung wurde mir angeboten, bei einer 10tägigen Kastrationsaktion in Nordgriechenland gemeinsam mit der Tierinsel Umut Evi e.V. und dem Tierärztepool im Nachsorgebereich mitzuhelfen. Hierbei hätte ich die Möglichkeit mich mit den medizinischen Tätigkeiten vertraut zu machen und es wäre eine Art "Testlauf" für mich, um zu sehen, ob mir diese Art Arbeit mit den Tieren überhaupt liegt. Ich war natürlich Feuer und Flamme!
Einige Tage vor der Abreise bekam ich die Nachricht, dass leider nicht alles wie geplant verlaufen wird. Doris, die mit mir für die Nachsorge der operierten Tiere zuständig gewesen wäre und mich in die Tätigkeiten einweisen sollte, konnte leider kurzfristig nicht mitkommen. In einem längeren Telefonat klärte sie mich natürlich über das Wichtigste auf und beschrieb mir, was ich unbedingt beachten müsse. Dennoch hatte ich große Angst, nun eher eine Belastung, statt eine Hilfe für das gesamte Team zu sein. Ich musste ja wohl oder übel erst einmal in Alles eingelernt werden.

Aus diesem Grund ist neben der immer größer werdenden Vorfreude und Neugierde auch etwas Angst und Unsicherheit in meinem Gepäck, als ich mich am Flughafen von meinem Vater verabschiede und die Tierärztin Melanie treffe. Eine unglaublich faszinierende und inspirierende Frau, die so viel von sich gibt, um den Tieren zu helfen. Die am laufenden Band arbeitet, kastriert und dennoch emotional nicht abstumpft. Für die jedes Tier ein Individuum ist, auch wenn es über 20 Operationen am Tag sind.
Eine Tierärztin, die sich auch mal traut die eine oder andere Träne zu vergießen, wenn ihr danach ist, vor Freude, aber auch vor Trauer, vor Enttäuschung oder vor Wut.

Nach einem reibungslosen Flug landen wir 2 Stunden später in Thessaloniki und werden von Ines der tierärztlichen Assistenz, die bereits das Mietauto besorgt hatte, abgeholt. Auch von ihr werde ich herzlich begrüßt. Ines, eine sehr emphatische, offene und extrovertierte Person, die ihr Herz steht´s auf der Zunge trägt und so das gesamte Team während der Aktion immer wieder auflockert. Sie ist einer dieser Menschen, die in bestimmten Situationen immer genau das Richtige zu sagen wissen und bei denen man sich sofort willkommen fühlt. Kein Wunder also, dass nach der 10 tägigen Aktion beinahe jeder der griechischen Helfer unsterblich in sie verliebt ist.

Während der Autofahrt nach Tyrnavos, die weitere 2 Stunden dauert, lerne ich die beiden etwas näher kennen und meine anfängliche Angst weicht immer mehr der Zuversicht. Wir fahren direkt zum Ort des Geschehens. Ein altes, umgebautes Schlachthaus voll mit Hunden, die bereits auf ihre bevorstehende Kastration warten. Welch Ironie, dass dort wo früher die Tiere zum Sterben hingebracht wurden, heute ein Ort der Hoffnung entsteht. Hoffnung, da wir helfen ungewolltes Leben durch Kastrationen zu verhindern und versuchen die Straßentierproblematik durch eine vertretbare Lösung in den Griff zu bekommen. Hoffnung, da die Tiere, die aufgrund diverser Krankheiten oder Verletzungen nicht zurück auf die Straße dürfen, hier auf ein neues, liebendes Zuhause warten.

Mir werden die griechischen Helfer vorgestellt, die Ines und Melanie schon von vergangenen Aktionen kennen. Wir verständigen uns auf Englisch. Alle sind super freundlich und freuen sich auf die kommenden Tage. Dann fährt Max, der Vorsitzende der Tierinsel - Umut Evi e.V. mit seinem voll beladenen, alten, weißen VW-Bus in die Einfahrt. Herzlich werde ich von einem Mann begrüßt, der das Wohl der Tiere, in jeglicher Form, vor das eigene stellt. Der in seinem Urlaub nicht zum Urlaub machen nach Griechenland fährt, sondern die freie Zeit nutzt, um hart zu arbeiten, für die Tiere. Bei den nächtlichen Fahrten durch die engen, griechischen Gassen, auf der Suche nach einem Parkplatz, in dem verhältnismäßig riesigem VW-Bus mit dem uns teilweise nur noch ein knapper Zentimeter von den am Rande parkenden Autos trennt, erzählt er mir viel von seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten und den vielen Erfahrungen, die er und seine Frau Doris in Sachen Tierschutz schon gesammelt haben. Es ist beeindruckend zu sehen, wie viel die Zwei schon geleistet haben und erschreckend zugleich, wie viele Steine einem in den Weg gelegt werden und wie viel noch geleistet werden muss, um ein Umdenken zu erreichen.

Wir beginnen sofort mit dem Ausräumen der von Max mitgebrachten Utensilien. In kürzester Zeit errichten wir einen OP-Saal, in dem effektiv und steril gearbeitet werden kann, bauen unzählige Katzen- und Hundeboxen auf und verteilen die verschiedensten Materialien im Nachsorgebereich. Dieser liegt direkt neben dem OP, welcher sich etwas abgegrenzt vom großen Raum befindet, in dem die später bereits fitten, operierten Hunde und die noch zu operierenden Hunde in ihren Käfigen warten. Es gibt eine Verbindungstür zwischen Nachsorge- und OP-Bereich und ein Fenster, durch das ich jeder Zeit Melanie beim Operieren zu sehen und auch immer um Hilfe fragen kann. Insgesamt vier große Hundeboxen stehen im Nachsorgebereich, in denen sich die frisch Operierten ausruhen und die Notfalltiere beobachtet werden können.

Fertig mit dem Aufbau erfahren wir, dass es wohl ein kleines Problem mit der Hotelbuchung gegeben hatte und wir für die erste Nacht in einem anderen Hotel untergebracht sind. Kein Problem für uns! Wir lassen den Abend in einem gemütlichen griechischen Restaurant ausklingen und stoßen auf den reibungslosen ersten Tag an.

Zurück im Hotel mache ich mich gerade bettfertig, als mein Handy klingelt. Es ist Melanie, die mich aus dem Nachbarzimmer anruft. "Miriam - gehe nicht auf den Flur, das Hotel brennt, komm über den Balkon raus" höre ich sie sagen. Just in diesem Moment bemerke ich die dunklen Rauchschwaden, die durch den Türspalt in mein Zimmer kommen. Feuermelder gibt es anscheinend keine. Geschockt stehe ich in meinem Zimmer, kann es nicht realisieren. Die einzige Nacht, die wir in diesem Hotel verbringen sollten, die Nacht vor dem ersten Kastrationstag, meine erste Nacht in Griechenland überhaupt und unser Hotel brennt! Wie in Trance ziehe ich Jacke und Schuhe an, schnappe mir mein Handy und meinen Personalausweis, bevor ich auf den Balkon zu Melanie und Ines steige. Gemeinsam klopfen wir noch an die anderen Balkontüren, helfen einem alten Ehepaar die Treppen runter, übernehmen ihr frierendes Enkelkind und bringen die beiden Hofhunde in Sicherheit. Mehrere Stunden stehen wir draußen in der Kälte ohne zu wissen, was genau passiert ist, ob wir unsere Sachen noch unbeschadet rausholen können und wo wir die restliche Nacht verbringen werden. Der Vize-Bürgermeister erfährt vom Brand und kommt vorbei um Nachzusehen, ob es uns gut geht. Gegen drei Uhr bekommen wir endlich das "Go" unsere Sachen aus dem komplett verrußten Hotel zu bergen. Außer dem üblen Geruch ist alles noch heile, nur die Tasche von Max ist etwas angeschmort, denn das Feuer war direkt neben seinem Zimmer ausgebrochen... Uns allen wird bewusst wie viel Glück wir gehabt haben. Ines und Melanie werden in dieser Nacht bei einer der griechischen Helferinnen untergebracht, Max und ich dürfen in den Gästezimmern des Bürgermeisters übernachten.

Aufgrund des nächtlichen Vorfalls starten wir die erste Operation am folgenden Tag eine Stunde später als geplant. Ich kann nicht in Worte fassen wie unfassbar aufgeregt ich war, als Melanie das erste Mal für diese Aktion das Skalpell ansetzt. Völlig fasziniert stehe ich im Nachsorgebereich vor dem Fenster und bestaune die erste Operation die ich miterlebe mit großem Respekt, verfolge jeden Handgriff ganz genau. Geduldig zeigt mir Ines meine Aufgaben im Nachsorgebereich und ich bin überrascht, dass ich schon beim zweiten Hund ganz auf mich alleine gestellt bin. Von Hund zu Hund wird die Arbeit immer routinierter. Die meist noch narkotisierten Hunde werden nach der OP zu mir in den Nachsorgebereich getragen. Ich beginne daraufhin mit dem Entfernen des Zahnsteins und dem Säubern der Ohren. Ebenfalls auf dem Programm stehen Krallen schneiden und Zecken entfernen, Fell bürsten oder scheren, Parasitenmittel je nach Gewicht auftragen, Venenkatheter ziehen und das Halsband mit der für den jeweiligen Tag stehenden Farbe zu markieren. Anschließend dürfen sich die Hunde in den mit Decken ausgepolsterten Käfigen ausruhen, bis sie fit genug sind, in den großen Raum zu den anderen Hunden getragen zu werden. Die anfängliche Unsicherheit, beispielsweise beim Wenden der Hunde, verfliegt schnell. Ich passe auf, dass keiner an seinem Erbrochenen erstickt und wische hier und da alles sauber, wenn mal etwas daneben gegangen ist. Die Tür zum OP ist meist einen Spalt geöffnet, so dass ich auch jederzeit einfach nachfragen kann, wenn ich Hilfe brauche. Je sicherer ich werde, desto mehr Spaß macht mir die Arbeit.

Die Stimmung im Team ist während der gesamten 10 Tage sehr gut. Wir arbeiten Hand in Hand mit den lokalen Tierschützern, welche die Hunde und Katzen einfangen, füttern, die Käfige reinigen und die Tiere (nachdem sie noch zur Beobachtung da waren) anhand der farblich markierten Halsbänder 24h später wieder zu dem Ort zurückbringen, an dem sie eingefangen wurden. Im Laufe der Zeit wird es auch zu meiner Aufgabe, bestimmten Hunden jeweils morgens und abends ihre Medizin zu geben und gemeinsam mit den Griechen zu koordinieren, welche Hunde aus dem Nachsorgebereich in den großen Raum kommen und welche bereits wieder freigelassen werden dürfen. So arbeite ich direkt mit den Helfern zusammen und sehe, mit welcher Liebe und Leidenschaft sie für das Wohl der Tiere arbeiten. Furchtlos trauen sie sich auch an ängstlich-bissige Kandidaten heran und sind voller Tatendrang dort zur Stelle, wo sie gerade benötigt werden.

Nach und nach wird die Nachsorge zu "meinem" Bereich, liebevoll von allen nur noch Wellnessbereich genannt. Denn neben all den Dingen, die natürlich sein müssen, bleibt immer auch etwas Zeit für Streichel- und Schmuseeinheiten. Diese werden auch in vollen Zügen genossen, von den Hunden aber ganz besonders auch von mir. Die Arbeit ist sehr anstrengend, das lässt sich nicht leugnen. Ich knie meist auf dem Boden und muss ständig aufstehen und wieder hinknien und die noch von der Narkose schlaffen Hunde umdrehen und in die Käfige tragen. Ja, am Ende des Tages schmerzen die Knie, brennen die Fußgelenke und knackst der Rücken, aber all das lohnt sich. Es lohnt sich allein für diesen einen Moment, wenn die Hunde langsam erwachen, kurz ihren Kopf heben und schauen, was die komische Frau da gerade mit ihren Krallen anstellt, um kurz darauf freundlich mit dem Schwanz zu wedeln. Wenn sie beginnen sich an einen zu schmiegen und jede noch so kleine Streicheleinheit genießen, die ich ihnen natürlich auch gerne gebe. Es ist, als würden sie instinktiv spüren, dass sie in Sicherheit sind und ihnen nichts Schlimmes passiert. Sie genießen die Ruhe, die weichen Decken und die Liebe, die wir ihnen geben. Einmal ausruhen, auftanken, fressen und im Wellnessbereich entspannen, bevor es wieder auf die Straße geht. Der Dank für all das, ist dieses zaghafte Schwanzwedeln und das liebevolle Schlecken meiner Hand, die ihnen den Bauch krault. Das ist der Lohn den wir bekommen und für den ich gerne immer wieder die leichten Schmerzen am Ende des Tages in Kauf nehme. Nicht nur einmal musste ich herzhaft lachen, wenn die noch halb narkotisierten Hunde neugierig durch "meinen" Raum tapsen und mich beobachten, wie ich gerade einen anderen Hund versorge oder die Katzen die sich schwankend versuchen aufzurichten, obwohl die Beinchen noch nicht richtig wollen. Mit der Zeit wird es ziemlich voll im Wellnessbereich. Ich hingegen werde immer entspannter. Ich habe viel gelernt, von Melanie, Ines und Max natürlich, aber vor allem von den Hunden und Katzen. Intuitiv merke ich, wenn einem Hund die Situation noch nicht geheuer ist, er gar Angst vor mir hat. Ich gehe ein paar Schritte zurück, gebe ihm die Zeit die er braucht, bis meine Berührungen in Ordnung für ihn sind. Übe mich in Geduld. Ganz ehrlich "geduldig" ist nicht unbedingt ein Adjektiv, mit dem ich mich beschreiben würde. Aber es ist, als könnte ich die Signale verstehen und darauf eingehen. So kenne ich mich bis dato nicht und ich bin überrascht darüber, wie mich die Arbeit mit den Tieren wachsen lässt, Tag für Tag.

Während der Kastrationsaktion arbeiten wir täglich von 9:00 Uhr bis 21:30 Uhr. Die einzige Pause ist unser Mittagessen, welches wir draußen in der Sonne zwischen all den Hunden zu uns nehmen, die noch auf ihre Behandlung warten. Direkt danach geht es wieder an die Arbeit, um möglichst viele Tiere in der begrenzten Zeit, die wir haben, zu kastrieren. Umso schöner ist dann unser Abendessen, welches wir meist in einem kleinen Bio-Restaurant in der Nähe des alten Schlachthauses zu uns nehmen. Es tut gut, gemeinsam über die Ereignisse des Tages zu reden und stärkt, wie ich finde, die Gemeinschaft untereinander. Die Inhaberin kennt Melanie, Ines und Max noch vom letzten Jahr und begrüßt uns stets so herzlich, als würden wir schon fast zu ihrer eigenen Familie gehören. Das griechische Essen ist köstlich und hat so viel mehr zu bieten, als nur das Gyros, was man aus Deutschland kennt. So ist es jedes Mal ein ganz kleines bisschen wie Urlaub, dort am Tisch zu sitzen und bei einem guten Glas griechischem Wein den arbeitsreichen Tag ausklingen zu lassen. Fast schon eine Art Auftanken für die nächsten arbeitsreichen Tage die noch kommen.

Insgesamt kastrieren wir in neun Tagen 86 Hündinnen, 48 Rüden, 33 Katzen und 13 Kater. Den zehnten Tag können wir nicht mehr effektiv zum Kastrieren nutzen, da sich am Morgen der Verdacht auf einen, für Welpen tödlichen, Virus verstärkt und es schlicht zu gefährlich ist, weiterhin zu operieren. Die Aktion wird vorzeitig beendet. 180 Straßentiere. Natürlich bleibt bei dieser Menge an Tieren nicht mehr jedes Einzelne im Kopf. Dennoch gibt es ein paar Fälle, die ich wohl nicht mehr so schnell vergessen werde.

Ziemlich am Anfang der Aktion lerne ich einen großen, hellbraunen Hund mit unglaublich schönen Augen kennen. Anfangs etwas skeptisch taut er unter den Streicheleinheiten schnell auf, so sehr, dass er sich kurzerhand komplett auf mich drauflegt, um gekrault zu werden. Ich verbringe viel Zeit mit ihm, da die Operation nach ihm etwas länger dauert. Ich ertappe mich, wie ich einen Namen für ihn suche. Nein - bloß nicht benennen, denn dann fällt der Abschied schwerer. Als er fit genug ist, um in den großen Raum zu kommen, widme ich mich wieder meiner Arbeit. Am nächsten Tag mache ich mich auf meine alltägliche Futterrunde. Wie der Zufall es will genau zu dem Zeitpunkt als die Hunde, die bereits 24h bei uns sind, abgeholt werden. Ich drehe mich um und sehe, wie zwei Männer gerade einen Käfig zur Tür hinaus tragen. In dem Käfig, der Hund mit den schönen Augen. Verängstigt sitzt er da, weiß nicht wie ihm geschieht. Genau in dem Moment dreht er sich zu mir um. Seine Augen treffen die meinen und ich merke, wie mir eine Träne die Wange herunter läuft. Es geht ihm gut, er kann gehen, weiß ich. Ich kann nicht jedes Straßentier retten, beruhige ich mich. Doch dieser Ausdruck in seinen sonst so schönen Augen bleibt für immer in meinem Herzen gespeichert.

Nicht nur traurige, sondern auch freudige Momente rühren mich in den zehn Tagen zu Tränen. An Tag drei kommt ein Hundetrio zu uns, das gemeinsam auf der Straße lebt. Eine riesige Hündin, fast so groß wie ein Kalb, und zwei kleine Weibchen. Eine von ihnen hat ein verkrüppeltes Bein, welches man amputieren muss. Als Melanie die große Hündin kastrieren möchte, bemerkt sie in ihrem Eierstock einen 15x15 cm großen Tumor. Ich sehe, wie sie alle Möglichkeiten abwägt. Die Bauchspeicheldrüse und etwas vom Darm waren schon an den Tumor gewachsen. Eine eventuelle Kapitulation steht unausgesprochen im Raum. Es ist nicht klar, ob die Hündin eine solche Operation überleben wird. Dann der Entschluss: Der Eierstockstumor wird entfernt! Unfähig etwas von mir zu geben, verfolge ich jeden einzelnen Schritt. Es vergehen Minuten, vielleicht auch Stunden, ich verliere völlig das Zeitgefühl. Meine Augen sind auf Melanies Hände gerichtet. Und dann endlich hebt sie dieses riesige Ding aus dem schlaffen Hundekörper heraus. Wäre ich in der Lage gewesen, hätte ich wahrscheinlich einen Freudenschrei von mir gegeben. Stattdessen füllen sich meine Augen mit Tränen. Freudentränen. Die riesige Hündin hat ihre Chance genutzt. Sie kommt zu mir in den Nachsorgebereich, in einen mit Wärmematte ausgestatteten Käfig. Während ich mich um die anderen Hunde kümmere habe ich stets ein Auge auf sie. Die dritte im Bunde, eine kleine cremefarbene Hündin, ist kerngesund. Da ihre beiden Freundinnen allerdings als Notfälle bei mir untergebracht sind, beschließen wir sie an den Käfig der großen Hündin anzuleinen und nicht runter in den großen Raum zu bringen. Mit Folgen...

Sie ist besonders, diese kleine cremefarbene Hündin. Nicht weil sie besonders aussieht, es gibt viele Hunde in Griechenland die ihr ähneln, es ist eher die Art, wie sie mich anschaut. Sie weiß ganz genau wie sie die Menschen um ihre Pfote wickelt. Indem sie zum Beispiel immer wieder ihren Kopf auf meinen Oberschenkel legt oder einfach an mich angekuschelt eindöst, wenn sie an mir hochspringt voller Freude oder sich einfach frech auf meinen Schoß setzt und mein Kinn ableckt. Als würde sie mir sagen wollen... "Hey..Ich will bei dir bleiben!" "Nicht verlieben!" ruft Ines mit einem Grinsen aus dem OP nebenan, als sie mich wieder beim Schmusen mit der Kleinen erwischt. Tief in mir weiß ich allerdings: Das ist schon längst passiert...

Nur knapp eine Stunde nach der Tumoroperation versucht die große Hündin in ihrem Käfig aufzustehen. Ich traue meinen Augen nicht und wieder bahnen sich Tränen an. Sie lebt. Auch das Futter, welches ich ihr anbiete, frisst sie hungrig. Schnell berichte ich Melanie und Ines, die ebenfalls fassungslos sind. Leider ist sie nicht sonderlich kooperativ und schnappt, als wir ihr die Infusion wechseln wollen. Zudem ist der Hundekäfig viel zu klein für einen Hund ihrer Größe. Wir beschließen am nächsten Tag, sie in den großen Raum in eine gesonderte, extra große Box zu bringen. Leichter gesagt als getan, bei einem Hund der so groß ist wie ein Kalb und sich leider auch nicht anfassen lässt. Also kommt der gute alte Futtertrick zum Einsatz. Ines und ich legen eine Futterspur, welcher die große Hündin, langsam langsam und unter gutem Zureden letztendlich bis in ihre neue Box, folgt. Der Plan ist, die cremefarbene Hündin zu ihr in die Box zu bringen, damit die Freundinnen nicht voneinander getrennt sind. Ich hatte die Kleine zum Mittagessen mit raus in die Sonne genommen und sie dort angebunden. Als ich sie später wieder zu uns holen will, ist sie plötzlich nicht mehr da! Sie ist schon über 24h bei uns gewesen und wurde, da sie rundum gesund war, von den Helfern mitgenommen und wieder am Fundort ausgesetzt. Ich bin am Boden zerstört! Wieder kommen die Tränen. Ich kann nicht aufhören an sie zu denken. Das merken die anderen sofort. Max erklärt mir, dass es den meisten Straßenhunden nicht unbedingt schlecht geht. Viele werden gefüttert und können ihr Leben frei bestimmen. Dies ist meist besser, als ein Leben an einer kurzen Kette ohne Auslauf. Ich gebe ihm Recht.

Ein paar Tage später bringen uns die Helfer einen großen schwarzen Hund, nur noch in Seitenlage. Sein Körper ist übersät mit kleinen Wunden, auf die sich die Fliegen stürzen. Er hat nur noch ein Auge und seine Ohren erinnern an kleine Fetzen. Er ist schwach, sehr schwach. Er hat ganz offensichtlich Leishmaniose. Blutuntersuchungen bei den griechischen Tierärzten werden eingeleitet und er wird von den lokalen Tierschützern aufgenommen, da Leishmaniose positive Hunde nicht mehr zurück auf die Straße dürfen. Wir geben ihm die Nummer 0, da er bereits kastriert ist. Immer wieder gehe ich zu ihm in den großen Raum, um ihm Wasser und Futter anzubieten. Er lehnt ab. Ich mache mir große Sorgen, aber gebe nicht auf. Ein weiteres Mal gehe ich zu ihm und biete ihm Wasser und Futter an. Er will wieder nicht. Ich stelle ihm den Wassernapf penetrant zwischen die Vorderpfoten, sodass er nur seinen Kopf heben muss, um zu trinken. Als ich mich gerade umgedreht habe zum Gehen, bekomme ich eine Gänsehaut. Ist das wirklich ein leises Schlecken, was ich da höre? Vorsichtig drehe ich mich um und tatsächlich - Er trinkt! Mir steigen wieder einmal die Tränen auf. Sofort renne ich in den OP um zu berichten, auch Melanie bekommt glasige Augen. Ich gehe zurück, biete ihm nochmal Futter an, auch das frisst er nun genüsslich. Aus 0 wird 007 - James Bond. Jamie.

Aufgrund der vielen Fliegen, die ihn nicht in Ruhe lassen wollen und der Tatsache, dass er nun stabil genug ist, um aufzustehen, verlegen wir auch ihn in "meinen" Wellnessbereich. Niemals werde ich vergessen wie Jamie schnurstracks ganz von allein in einen der fertigen Käfige läuft und es sich darin bequem macht. Diesen verlässt er auch nur noch, wenn er sein Geschäft zu erledigen hat. Danach stolziert er wieder zurück in seinen Käfig, als würde er genau wissen wo er hingehört.

Es ist unglaublich schön, diese Entwicklung mitzuerleben. Wie sich in nur kurzer Zeit sein Fell verändert und er am Ende sogar versucht sein Bein beim Pinkeln zu heben. "Da wir nun einen James Bond haben, brauchen wir doch eigentlich auch ein Bond Girl, oder?", stelle ich beim Abendessen fest. Die Antwort ist schnell gefunden: Unsere Tumorpatientin, die in der Box direkt neben ihm gelegen hat. Auch sie entwickelt sich prächtig. Ich bringe ihr jeden Tag Futter und Medizin und sie wird immer zutraulicher und zeigt keinerlei Schmerzen.
Der siebte Tag ist leider nicht ganz so erfreulich. Gleich zu Beginn wird uns eine Hündin gebracht, die vergiftet wurde. Sie ist schon tot und mit ihr ihre Welpen, denn sie war schwanger.
Ich muss schlucken und ziehe mich in "meinen" Wellnessbereich zurück. Als wüssten die Hunde ganz genau was gerade mit mir los ist, ist es mucksmäuschenstill. Neben mir nur die kleine rote Dackeldame die sich tröstend an mich schmiegt, als wolle sie mir meinen Schmerz nehmen.

In meinem Kopf kreisen die Gedanken und ich bin wieder bei der kleinen cremefarbenen Hündin, die nun wieder alleine auf der Straße lebt. Max hat Recht, ihr wird es grundsätzlich nicht schlecht gehen. Aber es gibt keinen, der darauf achtet, dass sie nichts Giftiges frisst, der aufpasst, dass sie nicht vor ein Auto läuft und der sie tröstet. Es gibt keinen, der ihr das Gefühl gibt, gewollt zu sein. Denn das sind sie hier nicht, die Straßentiere...

Manche Entscheidungen werden nicht rational getroffen, manche Entscheidungen trifft das Herz und in diesem Fall habe nicht ich, sondern die cremefarbene Hündin schon längst vor mir entschieden. Ich werde ein Zuhause für sie suchen! Auch einen Namen habe ich schon für sie. Sie soll Gypsy heißen - Zigeunerin. Ich weiß die griechischen Helfer könnten sie wieder einfangen, denn es wurde dokumentiert wo sie "wohnt". Sofort beginne ich via Social media in meinem Freundeskreis nach jemandem zu suchen, der sie adoptiert und tatsächlich meldet sich auch jemand noch vor Aktionsende, der Gypsy ein Zuhause schenken möchte.

Unvergesslich ist auch die Nr. 15, später von den Griechen aufgrund seiner Fellzeichnung Tigra genannt, der am ersten Tag zu uns kommt. Komplett abgemagert, nicht fähig aufzustehen. Wie ein Häufchen Elend liegt er in seinem Käfig. Kraftlos, hoffnungslos. Er schreit bei jeder Berührung herzzerreißend, vor Schmerz, vor Angst. Melanie beschließt, ihn in eine Tierklinik zum Röntgen zu schicken. Einige Tage später kommt er wieder zu uns. Er hat Leishmaniose deshalb geht es seinen Nieren sehr schlecht. Max und ich tragen den immer noch schreienden Hund hoch zu mir. Vorsichtig decke ich ihn zu, damit er es warm hat, gebe ihm Essen und Trinken. Langsam taut Tigra auf. Ich lasse seine Käfigtür offen, damit er, wenn er möchte, frei im Raum umherlaufen kann. An einem Tag ist ein sehr aufgedrehter junger Hund im Nachsorgebereich. Dieser jault ununterbrochen, wenn ich ihm nicht die volle Aufmerksamkeit schenke (was natürlich nicht möglich ist). Er ist so laut, dass es mir in den Ohren schmerzt. Kurzerhand rafft sich Tigra auf und trottet langsam aus seinem Käfig heraus, offensichtlich will er dem Lärm entgehen und sucht die nächste offene Tür. Es ist die Tür zum OP, die ja meist einen Spalt geöffnet ist. Schnell gehe ich hinterher, um ihn wieder zu mir zu holen. Der Raum soll ja möglichst steril bleiben und Melanie muss sich auf die OP konzentrieren. Da entdecke ich Tigra wie er es sich direkt, wie selbstverständlich, unter dem OP-Tisch bequem macht. Ich muss lächeln und schaue zu Melanie, auch sie lächelt. Es muss nicht mehr viel besprochen werden. Ich hole eine Decke, damit er nicht auf dem kalten Boden liegen muss. Er darf bleiben, dort, quasi direkt zwischen Melanies Füßen.

Am zehnten Tag findet abends ein Abschlussessen statt. Alle Helfer stoßen gemeinsam auf die erfolgreichen, vergangenen Tage an. Wir alle sind als Team super zusammengewachsen. Ich unterhalte mich mit Melanie und einer griechischen Helferin über die rechtliche Situation in Griechenland. Dass viele Tierärzte sich in ihrer Arbeit gestört fühlen und den deutschen Freiwilligen permanent Steine in den Weg legen. Eine Helferin erzählt, dass der Bürgermeister einmal einen im Sterben liegenden, vergifteten Straßenhund zum Tierarzt bringen wollte, dieser ihn aber nicht behandelte und nur entgegnete "bring ihn doch zu den Deutschen!". Ich habe diese Problematik schon während der gesamten Kastrationsaktion mitbekommen, doch dieses Beispiel sitzt mir besonders tief in den Knochen. Wut kocht in mir hoch. Und ich merke erneut, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Es nimmt mich mit. Wie kann ein Mensch einem hilflosen, leidenden Tier nicht helfen, weil er sich in seinem Stolz verletzt fühlt? Wie können wir zeigen, dass die Straßentierproblematik nur zu verbessern ist, wenn wir miteinander und nicht gegeneinander arbeiten? Ist denn das Verhindern von Leid nicht viel wertvoller, als Geld es je sein kann?

Der Abschied am nächsten Tag von all den tollen Helfern, aber auch von den vielen tollen Hunden und Katzen, die unseren Weg kreuzten, fällt mir sehr schwer. In meinem Gepäck sind nun viele neue, reiche Erfahrungen, für die ich unendlich dankbar bin. Die Emotionen der letzten Tage, all die Freude und das Lachen, die Trauer, der Schmerz und die Wut lasse ich auf der Heimfahrt Revue passieren. Für mich ist klar: Mein Weg ist hier nicht zu Ende, ich will weitermachen, weiterhelfen und den Tieren eine Chance für ein besseres Leben geben!

Helfen

Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
Jeder bekommt eine Chance auf ein besseres Leben! All das wird nur möglich durch Ihre Spende!

Jetzt spenden!

In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an   jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.

In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:

  Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer

  ACE - Tiere in Not (Epanomi)

TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de