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Brava - Herbst 2022

Liebe Tierfreunde!

Es ist schwer, einen Bericht aus einer anderen Welt zu verfassen, in die man gerade mal für drei Wochen eintauchen darf. Die Armut, die Andersartigkeit der Menschen, ihre Kultur, ihr tägliches Leben und die Schönheit ihrer Insel übten auf mich einen ganz besonderen Zauber aus, dem mein Sohn Dante und ich versucht haben, in den nachfolgenden Zeilen und Filmen ein Gesicht zu geben. Sie wissen, dass wir Tierärzte von morgens bis abends gegen das Tierelend ankämpfen und dass wir an improvisierten Stellen operieren, an denen man in Deutschland nicht mal den Ölwechsel seines alten Volvos durchführen würde. Halten wir uns bei der Bewertung der „anderen Umstände“ aber bitte immer vor Augen, dass es im Umkreis jeglicher Verantwortung über viele Kilometer nichts, aber auch gar nichts gibt, was helfen kann. Selbst die Menschen auf Brava sterben bei akuten gesundheitlichen Problemen, denn der einzige Zugang zu einer halbwegs ordentlichen, medizinischen Versorgung kommt alle drei oder vier Tage in Form der Fähre mal vorbei und benötigt für die Überfahrt nach Praia ins Krankenhaus gute sechs Stunden über den offenen und wahrlich nicht ruhigen Atlantik. Demnach liegt auf der Hand, dass sich um die Nöte der Tiere niemand kümmert. Somit ist alles was wir tun, auch unter improvisierten Bedingungen, eine hundertprozentige Verbesserung.

Dante hat seinen Film „Am Ende der Welt“ genannt. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Außer:
… und „WIR“ mittendrin.

Mystisch geben die aufsteigenden Nebelfelder immer mehr von den grünen Berghängen frei. Auf felsigem Untergrund versuchen Pflanzen erfolgreich das Wasser der winzigen Tropfen aufzufangen. Ist der Blick auf der Blumeninsel frei, meint man bis nach Brasilien sehen zu können, was bei 3500 Kilometern ein optimistisches Unterfangen ist. Afrikas westliches Ende ist, neben der Insel Santo Antão, genau hier. Hier, auf der Insel Brava. An dem Punkt der Erde, an dem die Fähre mit vielen grünen Männchen anlegt. Zwischen der kleinen, gerade mal acht Kilometer im Durchmesser aufweisenden Insel und der Nachbarinsel Fogo, auf der wir einen Stopp einlegen, fegt der Atlantik so richtig durch. Es ist gar nicht weit bis nach Brava, jedoch schaffen es die wenigsten, die Ko...tüten unberührt zu lassen. Auch mein Gang schwankt, obwohl es von Fogo gerade mal eine knappe Stunde ist. Fogo, auf der 2014 der aktive Vulkan ein ganzes Dorf unter seiner Lavaflut begrub, mit verheerenden Folgen für Mensch und Tier.  
 
Vor noch zwei Tagen standen Dante und ich in Hamburg am Flughafenschalter und waren guter Dinge, dass die Anreise nach Brava ja wohl nicht so schlimm werden würde. War sie auch nicht, außer dass sie mehr als drei Tage dauerte. Die Rückreise wurde allerdings zu einer Tortour. Aber davon später.
In Lissabon treffen wir uns mit den ersten Kollegen. Auch die Tierärztin Julia Gruhn wird erwartet, sie landet nach uns. Allerdings verspätet, so dass sie es nicht mehr schafft, unseren Weiterflug zu erreichen. Sie bucht ein Hotelzimmer bei booking.com, gerät an Betrüger, fährt mit einem Taxi in eine der dunkelsten Ecken Lissabons, in der es das angebliche Hotel gar nicht gibt und erreicht uns einen Tag später völlig frustriert und übermüdet.

Auf der Fähre nach Brava lernen wir das gesamte Team kennen. Acht Tierärzte sind anwesend, ebenso wie viele Assistenten von Bons Amigos, unserem Partnerverein, mit dem vor Monaten die Idee entstand, einmal eine komplette Insel leer zu kastrieren. Auch Brian, ein Brite mit trockenem Humor, ist an Bord. Er wird die freiwilligen Hundefänger, die sich auf Brava gemeldet haben, trainieren und so unterrichten, dass die internationalen Standards des humanen Fangens eingehalten werden. Wir möchten es den Tieren, so gut es eben geht, stressfrei und den Menschen sicher machen.

Im Hafen das absolute Gewusel. Ordnung kennt hier keiner. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das gesamte Equipment beim Einchecken in Santiago geblieben ist, obwohl man Herwig fest zugesagt hatte, es sei an Bord. No Stress…
Das Positive in Furna, der winzigen Hafenstadt, in der wir anlegen, ist die Hundepopulation, mit das Erste, was meine Augen wahrnehmen. Wenige Tiere laufen herum und diese sehen gepflegt aus. 800 Tiere haben unsere Kolleginnen und Kollegen auf Brava in den letzten Jahren bereits kastriert. Die positiven Auswirkungen sind offensichtlich.
Unser winziger Bus quält sich die steilen und kurvigen Serpentinen hoch in die Hauptstadt, die man bequem in zehn Minuten von einem zum anderen Ende zu Fuß durchstreifen kann.
Auf Brava sind die Kilometer gefühlt länger als woanders. Zwar liegt alles nah beieinander, aber die Kopfsteinpflasterstraßen sind steil, oft in schlechtem Zustand und führen an schwindelerregenden Abgründen vorbei. Ohne Nebel sind die Ausblicke dafür atemberaubend.
Unser Hotel ist auch atemraubend. Es stinkt überall verschimmelt. Einen Service gibt es nicht. Die Handtücher riechen, als hätten sie in einem stickigen Raum überwintert und an der Decke und am Schrank breitet sich Schimmel aus, als wäre es eine Plantage, die auf die Ernte wartet. Wir beziehen die Zimmer, tauschen diese aber recht schnell wieder, denn hier funktioniert die Toilettenspülung nicht, da kommt kein Wasser aus dem Hahn und dort geht das Licht nicht an. Im Laufe der Zeit nutzen die meisten von uns die Badezimmer, die funktionieren, unabhängig davon, wer dort wohnt. Wir sind in den nächsten drei Wochen die einzigen Gäste.

Die Distanz im Team ist spürbar. Noch. Wir kennen uns untereinander nicht alle. Fünf Nationen mit jeweils ihren eigenen Sprachen. Auch der Erfahrungsschatz der Tierärzte ist unterschiedlich. Anfänger neben Routiniers. Chirurgen neben Internisten. Anästhesisten für den guten Schlaf.
Aber wir wachsen zusammen. Jeder mit seiner eigenen Präsenz.
Da ist die Lara aus Portugal. Ihre Power ist atemberaubend. Sie bekommt den Namen Duracell, der das verspricht, was er vorgibt. Eine Batterie, die niemals leer ist. Sie ist die rechte Hand von Herwig, stand im Vorfeld mit den Behörden von Brava in Kontakt, organisierte die Unterkunft, das Essen, die Räumlichkeiten. Erste Frau im OP mit großer Erfahrung, aber auch in der Behandlung ein Fels in der afrikanischen Brandung, die manchmal über uns hereinbricht, als wären wir nur einen einzigen Tag hier. Dann drängeln sich die Menschen vor dem OP mit ihren bereits bei der letzten Aktion kastrierten Tieren und holen sich eine Behandlung gegen Parasiten ab. Laras Lächeln ist ansteckend und ich glaube, es hat sie noch niemals jemand schlecht gelaunt gesehen.

Neben ihr Melanie. Chirurgisch trägt sie die Verantwortung, da bereits zigtausend Tiere von ihr unfruchtbar gemacht wurden und ihre Erfahrung, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, extrem hoch ist. Aber die Tage schlauchen sie, denn es sind auch weniger erfahrene Tierärztinnen mitgereist, auf die sie permanent ein Auge werfen muss. Kein einziger Tag wird entspannt für Melanie ablaufen. Sie wird auch nicht die ganzen drei Wochen hierbleiben können, da ein Einsatz in Nordgriechenland ihre Anwesenheit erfordert. Aber wer Melanie kennt, der weiß, dass auch sie immer guter Laune ist und für jeden ein Lächeln übrighat.

Früh morgens treffen wir uns alle im Restaurant des Hotels und genießen das Frühstücksbuffet. Vorsicht Ironie: das Restaurant besteht aus Tischen und Stühlen aus den Siebzigern, Campingtischen, auf denen die Bananen liegen, umgeben von einer Kanne mit heißem Wasser, aber ohne Teebeutel. Dazu ein Topf Margarine und die Brötchen, die in Deutschland nicht mal als „vom Vortag für den halben Preis“ verkauft werden würden. Manchmal gibt es Papaya oder Avocado. Oder ein Stück Käse. Habe ich die Hafermilch vergessen? Stimmt. Obwohl die mehr aus Julias extrem schweren Koffer stammt, als aus Brava. Aber wissen Sie was? Das geht. Es schmeckt, macht satt und gesund ist es allemal. Kalorien zählen braucht hier keiner. Den Blick in die „Küche“ aber auch niemand…

Nachdem sich keiner überfressen hat, warten wir auf unser Taxi. Mal ist es ein Pickup, mal ein Bus mit neun Sitzen und hin und wieder sogar der öffentliche Bus, der für uns reserviert zu sein scheint. Zwar springen immer mal wieder Fahrgäste, die irgendwo im Nichts stehen auf die Ladefläche, fahren ein Stück mit, plaudern mit dem Busfahrer, was offenbart, dass sich auf Brava eh jeder kennt und springen ein Stück weiter im Nichts wieder runter. Bezahlt hat nie jemand etwas. Wir sind sozusagen das 9-Euro-Ticket der Kapverden.

Unser Zielort ist selten weit entfernt, jedoch fühlt sich die Fahrt durch die Steilheit der Berge und durch endlose, sich an den Hängen vorbeischlängelnde Serpentinen, stundenlang an. Ich glaube eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h wurde auf der ganzen Insel noch nie überschritten, außer von zwei Motorrädern, die im Stundentakt die einzige, längere Straße vor unserem Hotel entlangknattern. Natürlich auch nachts!

Heute liegt das Dorf, in dem wir arbeiten werden, ganz in der Nähe des Hotels. Was etwas weiter weg ist, sind unsere Vorstellungen von der Kastration ALLER Tiere auf Brava.
Die Planung hierzu begann im Frühjahr 2022. Vorausgegangen war die Frustration über die eigentlich unter Kontrolle geglaubte Situation auf der kapverdischen Insel Sal, auf der sich die Tierzahl durch eine coronabedingte, 18-monatige Abwesenheit unserer Tierärzte schlagartig um ein Vielfaches erhöht hatte. Die Frage stand also im Raum, ob man es schaffen kann, die Tierpopulation einer definierten, geografischen Größe zu 100 Prozent kastrieren zu können, oder falls nicht, in welchem zeitlichen Abstand die Nachkontrollen stattfinden müssen.

Die Wahl fiel auf die westlich im Atlantik gelegene Insel Brava, auf der Brian, professioneller Hundefänger, im Saal des Rathauses einen Vortrag hält. 10-15 Einheimische sind dem Aufruf der Gemeinde gefolgt und stehen bereit, um als Hundefänger dafür zu sorgen, dass uns Tierärzten nicht langweilig wird. Es macht Freude, einem Profi zuzuhören und zuzuschauen, der offensichtlich in jedem Land dieser Erde beruflich unterwegs war.

Wir erreichten das erste Dorf. Leider ist der Verantwortliche, der den Schlüssel zu unserem OP-Raum hat, nicht anwesend. Wir warten. Um es vorweg zu nehmen, wir warten jeden Morgen!
Aber dann! Die Tür öffnet sich und wir betreten den ersten OP-Saal. Also einen riesigen Raum mit… nichts! Ein lockeres Kabel hängt von der Decke, die einzige Lampe leuchtete im vorigen Jahrhundert das letzte Mal und die Fensterläden lassen sich nur mit brutaler Gewalt quietschend aus ihren Halterungen drücken. Der Fußboden… soll ich weiterschreiben?
Improvisieren! Die Motivation ist da, die OP-Tische noch nicht. Der Strom fließt, das Wasser nicht. Es ist beim Nachbarn zu organisieren. Die Toilettenspülung läuft permanent, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass am Waschbecken nichts heraustropft. Dann kommen die OP-Tische doch noch. Wackelige Holztische, die ihre besten Zeiten auch schon hinter sich haben. Ihre Beine: viel zu kurz. Von draußen werden von irgendwo her Ziegelsteine organisiert und die Höhe angepasst. Abdecktücher drüber und die Sache sieht schon wesentlich besser aus, als noch vor einer halben Stunde. Aus Krücken, Bast, Bambus, Eisenstangen oder Seilen werden die OP-Lampen-Konstruktionen zusammengeflochten und dienen gleichzeitig als Infusionsständer. Inzwischen tauchen die ersten Hunde auf, werden untersucht, in ein Formular eingetragen, narkotisiert und an den Tierarzt weitergereicht, der gerade Platz auf seinem Tisch hat. In der Regel operieren drei Tierärzte parallel. Alice und Ines sind zwei von ihnen. Beide kommen aus Lissabon und sind hier aus unterschiedlichen Motiven. Alice operiert vereinzelt auch mit, der Grund ihrer Anwesenheit ist aber ein anderer. Wir wollen auf Brava fundiert wissen, wie viele Hunde wir NICHT kastrieren können. Wie viele am Ende unserer drei Wochen unkastriert zurückbleiben und unsere Arbeit in der Zukunft – wie auf Sal - theoretisch zunichte machen können. Alice hatte sich darauf vorbereitet. Mit einer App, unzähligen Fragebögen und einer detaillierten Landkarte zieht sie mit ihrer Kollegin Ines von Haus zu Haus. Eine geniale Idee, die ich gerne auch auf andere Länder übertragen würde. In dieser App kann sie die Häuser markieren, in denen sie die Einwohner befragt hat, sie kann Straßenhunde eintragen und auch Fotos von ihnen machen, um Tage später zu wissen, ob dieser Hund bereits erfasst ist oder nicht. Ihr Fragenkatalog ist lang: „Haben Sie einen Hund oder eine Katze? Im Haus oder im Hof? Oder vielleicht sogar als Freigänger auf der Straße? Ist Ihr Tier kastriert und wenn nein, warum nicht? Würden sie es uns bringen? Was halten…“ So geht es den ganzen Tag und Alice sieht man am Abend die vielen Kilometer an. Das endgültige Ergebnis steht noch aus, aber wir können auf jeden Fall schon folgendes festhalten: man wird es NIE schaffen, 100 % einer Population zu kastrieren. Es bleiben immer Tiere unkastriert, vielleicht, weil die Besitzer damit züchten wollen oder Angst vor der Narkose haben oder vielleicht sogar aufpassen und ungewollte Trächtigkeiten vermeiden. So oder so, die Eindämmung einer Population wird nach den ersten „großen“ Einsätzen zukünftig immer von „Nacheinsätzen“ begleitet werden müssen.
Aber das alles sind bis heute Spekulationen. Im Netz findet man sehr wenig über die Populationsentwicklung nach Kastrationsaktionen. Oft wird einfach in eine Population hineinoperiert, ohne nennenswerte Auswertungen über die Zukunft. Auch wir gehen so vor, denn als erstes muss ein geschätzter Anteil von mindestens 85% der Population unfruchtbar sein. Aber niemand scheint auf dieser Welt zu wissen, wie schnell sich die restlichen 15% weitervermehren und das Ergebnis der 85% zunichte machen. Auch weiß niemand, ob die 85% korrekt sind. Man kann dies am Straßenbild vielleicht festmachen, aber wie viele Tiere werden in Häusern und Gärten ge- und zurückgehalten?
Herwigs und mein Anspruch ist es, erst dann von Brava abzureisen, wenn der letzte Hund hinter der letzten Hecke eingefangen und kastriert ist. Herwig, der Leiter von Bons Amigos, kennt sich aus auf den Kapverden, die seine zweite Heimat geworden sind. Er spricht inzwischen beeindruckend gut Portugiesisch, hat mit der Klinik auf der Hauptinsel Santiago einen großartigen Stamm von Leuten aufgebaut, die genau wissen, was zu tun ist und hat für jeden immer und überall ein offenes Ohr. Freundlich und ruhig meistert er auch die Momente, in denen er klitschnass geschwitzt die gigantischen Mengen an Kartons, die aus Österreich, Deutschland und Portugal mit einer Fähre ankamen, ordnet und mit Lara und Melanie tonnenweise Equipment zusammenstellt. Dann steht er wieder am OP-Tisch um Minuten später der Vizebürgermeisterin die Hand zu schütteln und mit ihr, freundlich lächelnd, die weiteren Details zu besprechen. Das Engagement der Inselverwaltung darf hier lobend erwähnt werden. Und das, was Herwig in diesen drei Wochen abliefert, ist mehr als beeindruckend.

Auch der Zweitjob von Alice ist beeindruckend. Neben den Listen, die durch ihre Umfragen erstellt werden und an denen sie gefühlt 24 Stunden täglich arbeitet, besucht sie Schulen. Sie hält Unterrichtsstunden, erklärt den jungen Zuhörern den richtigen Umgang mit den Vierbeinern und als Dante und ich zu Foto- und Filmzwecken mitdürfen, können wir kaum glauben, dass einen Tag später der Nachbarschulraum zu unserem OP werden wird. Aber so läuft es hier - pragmatisch. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Armut spürbar ist. Die Klassenräume sind spartanisch eingerichtet. Die Kinder, die täglich oft einen Schulweg von mehreren Kilometern zu Fuß meistern müssen, tragen Einheitskleidung, sind diszipliniert und lauschen einer begeistert auf portugiesisch vortragenden Alice, die mit ihrer mitreißenden Art auch Dante und mich in ihren Bann zieht. Obwohl wir fast nichts verstehen. Das Ergebnis: tags drauf sitzen die zweibeinigen Zwerge vor dem OP-Raum und jeder von ihnen hat einen vierbeinigen Zwerg auf dem Arm.

Ich sitze auf der Plaza der Hauptstadt, weil man hier hin und wieder ins Netz kommt. Meine Emails trudeln ein. Unter anderem auch die unserer Fluggesellschaft TAP, dass sich unser Rückflug vom siebten auf den zehnten November nach hinten verschoben hat. Das darf doch wohl nicht wahr sein?! Ich habe Termine in Deutschland, die ich nicht einfach verschieben kann. Meine Kollegin Ines beruhigt mich. Sie hat auf der Seite der Fluggesellschaft nachgeschaut: diese Mails sind Fakemails.

Mir gefällt bei den Kindern die Art, miteinander umzugehen. Egal wo wir hinkommen, die Kinder wirken frei und ungezwungen. Sie kommen offen auf uns zu, überwinden Hemmungen in Windeseile und sind neugierig auf alles, was wir ihnen zeigen. Ich beobachte ihre Stellung in der Gesellschaft, in der es sicherlich auch große Probleme gibt. So sehe ich häufig alkoholisierte Menschen. Bei einer Geburtstagsfeier, zu der wir spontan eingeladen werden, sogar so verklärte Blicke, dass mit Sicherheit andere Drogen mit im Spiel sind. Trotzdem werden die Kinder größtenteils liebevoll behandelt, wobei es auch hin und wieder n´ Watschn gibt. Die leiblichen Eltern müssen gar nicht so viel Erziehungsarbeit leisten, denn die Prägung geschieht durch die großen Familien und das Dorf. Die Familien sind riesig, ein älterer Herr sprach von 96 Urenkeln, die seinen Reichtum bilden, und bei dem allgemein recht offenen Umgang zwischen Männlein und Weiblein glaube ich das gerne. Die Kinder spielen mit den einfachsten Dingen, sie probieren aus, holen sich blaue Flecken und erobern ihre Welt. Sie werden geführt, aber die Leinen sind wahrlich länger als ich es aus Deutschland kenne. Mit einem SUV ist kein einziges Kind jemals zur Schule gebracht worden. Dafür laufen sie über Stock und Stein und kriegen auch bei blutigen oder zerkratzen Beinen kein Pflaster draufgeklebt. Man muss diese Art des Umgangs nicht gut finden, aber man darf sich so seine Gedanken machen.

Überhaupt sind die Gedanken und Einblicke in andere Welten, die ich seit Beginn meiner Reisen vor mehr als 35 Jahren sammeln durfte, ein unglaublicher Reichtum, denn sie lassen mich das genießen, was ich zuhause habe. Sie lassen mich erkennen, dass Vieles keine Selbstverständlichkeit ist. Und ich lerne, mich immer wieder zu reduzieren und, wie Dante es so schön sagt, zu bemerken, dass man den ganzen Klimbim nicht braucht. Glück kann man nicht kaufen, jeder der das nicht glaubt, darf uns beim nächsten Mal gerne nach Brava begleiten.

Wieder erhalte ich eine Mail von TAP, dass unser Flug auf den 10.11. verlegt wurde. Genervt ignoriere ich diese Nachricht.

Auch unser Team ist in den drei Wochen zusammengewachsen, hat ausprobiert, sich blaue Flecken geholt und die Welt erobert. Wir haben Reis mit Gemüse gegessen, am nächsten Tag Gemüse mit Reis und dann wieder Reis mit Gemüse. Wir konnten nicht jeden Tag duschen, warm schon gar nicht. Das Bettzeug hielt drei Wochen. Um ins Internet zu gelangen, liefen wir 500 m zur Plaza, um dort festzustellen, dass es heute nicht da war. Wir hatten keine Sorgen, ob die Welt außerhalb der Kapverden noch existiert und freuten uns über jedes kastrierte Tier. Wir tanzten am Strand, sprangen ins Meer, grillten Maiskolben, feierten ohne Grund und spürten, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Das Ziel, was es auch immer neben 373 Kastrationen war, haben wir erreicht – alle zusammen. Das verbindet!

Es war meine Absicht, in diesem Bericht einmal nicht über Tierschicksale zu berichten. Erstens kennen Sie diese Geschichten aus meiner Feder zur Genüge und hier, auf der Insel Brava, sind so viele Eindrücke auf mich niedergeprasselt, dass ich es schade gefunden hätte, Ihnen nicht davon zu berichten. Aber keine Sorge, wir haben 373 Tiere kastriert, unzählige behandelt und traurige Schicksale zum Guten gewandt. Das oberste Ziel konnten wir erreichen, es gibt so gut wie keine unkastrierten Tiere mehr. Außer jenen, die von ihren Besitzern zurückgehalten wurden. Ihre Zahl beträgt… Nun werden wir bei der Auswertung dieser drei Wochen überlegen, in welchen Intervallen wir, beziehungsweise das Team von Bons Amigos, zu Nachkontrolleinsätzen von der Hauptinsel Santiago rüberfährt, beziehungsweise schwimmt, um somit die Population komplett und für lange Zeit unter Kontrolle zu halten.

Wenn Sie es ohne Tiergeschichte aber nicht aushalten: eine hätte ich, die auch mir unter die Haut ging. Wir hatten eingepackt, das ganze Equipment in den Kartons verstaut, die Fallen und Käfige gereinigt und alles für die morgige Abfahrt in den Flur des Hotels gestellt. Den Abend wollten wir in der Hafenstadt verbringen - ein bisschen feiern.
Verunfallt ein Tier, so wird es in der Regel sich selbst überlassen. Was soll man auch tun, wenn es keine medizinische Versorgung gibt, man sich selbst um die eigenen Wehwehchen nicht kümmern kann und alles zu teuer oder zu weit entfernt ist.
So lag auch die Hündin drei Tage lang unter dem Tresen eines kleinen Einkaufladens. Niemand verscheuchte sie, aber auch niemandem fiel ein, sie zu den gerade für drei Wochen auf der Insel weilenden Tierärzten zu bringen.
Ganz nebenbei erzählte man Lara auf dem Weg zum Strand von einem Hund, der angefahren wurde.
Das Bein war völlig zerfetzt. Gut, solch ein Anblick schockt niemanden mehr von uns, aber was nun geschah, machte uns Tierärzte, die wir aus Europa angereist waren, stolz und glücklich. Gilson, Veterinärtechniker, also ein Zwischending zwischen Tierarzt und Tierarzthelfer, meinte, dass er die OP am späten Abend machen könnte, er sei noch fit genug. Aber wir hatten keine Knochensäge, was bedeutet, dass das Bein im Gelenk der Hüfte amputiert werden muss. Eine doch nicht ganz einfache Operation. „Das habe ich schon hunderte Male gemacht“, antwortete Gilson mit einer Selbstverständlichkeit, als hätten wir beschlossen, einen Apfel zu schälen. Somit führte ein junger Mann, geboren auf den Kapverden, mitten in der Nacht das Skalpell mit einer Ruhe und einer Präzession, die auf den zusammengeschobenen Hoteltischen wie eine lang einstudierte Pantomimedarbietung aussah. Nach etwas mehr als einer halben Stunde war das Bein ab, die Wunde vernäht und die Patientin wohl auf.  Am nächsten Morgen wedelte sie uns fröhlich an. Fotos, die uns hinterhergeschickt wurden beweisen: sie hat alles sehr gut überstanden.

Erlauben Sie Dr. Herwig Zach, Leiter von Bons Amigos, bitte einen Nachsatz in Bezug auf Gilson, den jungen Mann von den Kapverden, der nie eine Universität besucht hat, stattdessen aber die Ausbildung zu einem "Technico" absolvierte und der mitten in der Nacht ein Bein amputierte. Sein fachliches Können hat er in unendlich vielen Kastrationskampagnen mit einer harten Ausbildung seit über einem Jahrzehnt von unseren beiden Vereinen gelernt.

"Ich finde es ist sehr wichtig zu erwähnen, dass auf den Kapverden - mit der Erlaubnis der dortigen Veterinärabteilung des Landwirtschaftsmimisteriums und Duldung durch die Tierärztekammer, die in die Organisation der Arbeit eingebunden ist, "Técnicos" tierärztliche Aufgaben übernehmen müssen, weil es einen eklatanten Tierärztemangel gibt. Und dass wir - die Bons Amigos und der Tierärztepool - diesen Técnicos seit über zehn Jahren die Möglichkeit gegeben haben, wirklich etwas zu lernen, fachlich zu können und dass wir ihnen auch vernünftiges Arbeitsmaterial an die Hand geben. Die medizinische Arbeit fachlich akkurat durchführen zu können, ist etwas, worauf wir enorm stolz sind. Es gibt auf allen Inseln, auf denen die Bons Amigos tätig sind, keine bessere Versorgung als die durch unsere Técnicos. Sie behandeln auch im Auftrag des Ministeriums die landwirtschaftlichen Nutztiere, einfach weil es keine Tierärzte gibt. Das sind nun einmal die Wahrheiten in diesem kleinen, entfernten Land. Und dass wir die Qualität der Behandlung massiv angehoben haben und Tieren zu einer Behandlung/Operation verhelfen, die sonst ohne menschliche Hilfe langsam verenden müssten, ist eine Tatsache, hinter der wir uns nicht verstecken werden. Es ist unserer Meinung nach der beste Weg zur Selbsthilfe. Man darf nicht vergessen, dass unter anderen Realitäten einfach auch andere Vorgangsweisen notwendig und legitim sind."

 

Welches sich verabschiedet. Mit der Fähre. Über sechs Stunden. So schlecht war mir lange nicht mehr! Der Horizont: manchmal senkrecht über mir, mal tief im Wasser. Dass ein Schiff das überhaupt aushält? Überall um mich herum die typischen Würgegeräusche und das Rascheln der Tüten. Obwohl wir EIN Team waren, kämpfte jetzt jeder für sich.
Als spät in der Nacht die Welt langsam aufhörte zu schwanken und wir wieder ins Netz kamen, klappte das online Einchecken des Rückfluges nach Lissabon bei einer unserer Helferinnen. Bei Dante und mir nicht. Unser Flug hatte sich verschoben. Nix Fakenachrichten!
Irgendwie schafften wir es trotzdem, am siebten November spät abends in Deutschland anzukommen, aber fragen Sie uns nicht, wie und in welchem Zustand. 48 Stunden fast ohne Schlaf, mit Nerven, die kurz vor dem Zerreißen waren. Mit zig Umbuchungen, endlosen Wartezeiten an mehreren Flughäfen und mitleidigen Blicken derer, die in schicken Anzügen mal eben von Frankfurt nach Hamburg zu wichtigen Meetings flogen.
Zwei Tage lang genossen wir, wieder zuhause, das saubere Bettzeug, das kulinarische Angebot in den Supermärkten, das uns fast zu erschlagen drohte und die saubere Luft ohne Schimmel. Wir kleideten uns mit frisch gewaschenen Sachen, trafen uns zum Frühstück und begannen, das Foto- und Filmmaterial zu sichten. Aber je mehr wir uns erinnerten und uns die Vergangenheit der letzten Wochen eingeholte, desto schweigsamer wurden wir. Warum eigentlich? Weil das Leben zwischen den Welten extrem schwer und die Definition für reich und arm verdammt relativ ist. Und weil man nie etwas be- oder verurteilen sollte, ohne es zu kennen.
Irgendwann schauten wir auf und als sich unsere Blicke trafen, wussten wir ganz genau, was der andere gerade dachte: wann fliegen wir wieder hin?

Thomas Busch


Projektbericht

Ein detaillierter Bericht über den Einsatz wurde den Tierärzten Lara Baptista und Dr. Herwig Zach angefertigt und kann durch Klick auf nebenstehendes Bild heruntergeladen werden.