Kreta - die unmögliche Treppe
Ein Bericht von Dr. Melanie Stehle, Tierärztin
Kreta ist für mich die „unmögliche Treppe“. Sie kennen die Bilder von optischen Täuschungen, explizit das der Treppe, auf der man im Quadrat nach oben steigt, aber, oben angekommen, feststellt, dass man eigentlich erst unten ist.
Wie oft wir schon im Osten von Kreta diese Treppe bestiegen haben? Ich weiß es nicht.
Kaum sind wir oben, also fertig mit der ersten Kampagne, rutschen wir wieder hinunter, indem unsere Partner flehentlich fragen, wann wir wiederkommen.
Im März kam ich wieder.
Zusammen mit meinem Team verbrachten wir die sieben eingesperrten Quarantänetage im New Life Resort. Es gibt Schlimmeres, aber wir scharrten mit den Füßen, denn wir sind als Einsatzteam und nicht als Urlauber auf die Insel gekommen.
Endlich drehen wir den Zündschlüssel unseres alten Freundes, der vor einem halben Jahr bei einem schweren Unfall Antonias Leben rettete, und den griechische Mechaniker zurück auf die Straße brachten, herum und treten aufs Gaspedal. Vorbei an genau der Stelle, an der voriges Jahr das Unglück passierte. Wir sind ausgeschlafen und folgen den endlosen Kurven immer weiter in Richtung unserer ersten Treppenstufe: Sitia.
Der Bus fährt sich traumhaft. Fast wie neu. Und er tut das, was er schon immer perfekt tat: er transportiert. Alles! OP-Materialien, Flugboxen, Fallen, Quetschkäfige und uns. Acht Tage werden wir unterwegs sein und in den Gemeinden Sitia, Ierapetra und Agios Nikolaos Straßentiere kastrieren.
Christina Schomann, Ihnen allen ein Begriff und ein Fels in der Arche-Brandung, lenkt unseren gutmütigen Riesen vorbei an traumhaften Küsten zielstrebig vor das große Stahltor des ausrangierten Schlachthofes. Warum wir immer in der gespenstisch leeren Atmos-phäre trauriger Vergangenheit arbeiten müssen, ist vielleicht als Wiedergutmachung dessen zu verstehen, was hier einst an Verbrechen begangen wurde.
Diese Wiedergutmachung beginnt mit der herzlichen Begrüßung all der wundervollen Menschen, die schon ihrer Ausstrahlung wegen die Bürde dieses Ortes vergessen lassen. Sie sind so etwas wie eine Familie, die man lange nicht besuchen konnte.
Wir räumen den Bus aus, bauen den OP auf und freuen uns auf die Arbeit.
Nun stehe ich also auf meiner untersten Treppenstufe und weiß, dass ich mich mit Christina und dem gesamten Team erfolgreich nach oben arbeiten werde. Aber ich weiß auch, dass er kommen wird. Der Moment, an dem ich aufspringe, weil es eilt. Der Moment, an dem ich noch weit konzentrierter sein muss, als ich es eh schon bin. Der Moment, an dem ich gefordert bin. Der Moment, in dem all mein Wissen und meine Erfahrungen dazu dienen, im akuten Notfall die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich weiß, das er kommen wird, weil er immer kommt.
Und kaum habe ich diese latenten Gedanken respektvoll versucht an die Seite zu legen, höre ich bereits draußen die Hektik. Was danach mit mir, meinem Team und dem Notfall geschah, habe ich bereits auf Kreta für unsere Homepage geschrieben. Heute und wieder zurück in Deutschland, durchlebe ich die Stunden erneut und freue mich riesig, dass es unser Zwerg geschafft hat.
„Fassungslos, aber voll konzentriert analysierten wir den Zustand unseres eingelieferten Notfalls. „Krampfend am Straßenrand liegend, zufällig beim Vorbeifahren gesehen“ sind kurze Gesprächsfetzen, die uns zugespielt wurden. Sehr schnell wird uns klar, dass der kleine Straßenkater vergiftet wurde. Sein ganzer Körper bebte, seine Muskeln krampften unentwegt. Panik in seinen Augen, denn er verstand nicht, welch unkoordinierten Zuckungen und Schmerzen sein Körper ausgeliefert war. Von nun an zählte jede Sekunde, denn dieser Zustand war lebensbedrohlich. Aufkeimende Wut hatte in diesem Moment keinen Spielraum in unseren Gedanken, denn ab jetzt mussten wir rational funktionieren. Und schnell! Eine gut ausbalancierte Narkose, um die Krämpfe einzudämmen, Venenkatheter und Infusion um den Kreislauf stabil zu halten und vor Organversagen zu schützen, Überwachung der Herzfrequenz, denn das Gift lässt häufig die Herzfrequenz auf ein Niveau absinken, dass es zum Stillstand führt und man gegebenenfalls mit Notfallmedikamenten gegensteuern muss. Die Einleitung der Narkose hatte den positiven Nebeneffekt, dass das Katerchen erbrechen musste. Gott sei Dank, denn es half, dass ein Teil des Giftes den Körper zeitnah verlassen konnte. Um das Nervensystem vor weiteren Schäden zu schützen, muß eine Narkose so lange aufrecht erhalten werden, bis das Gift wieder ausgeschieden wird. Das bedeutete, dass unser kleiner Patient die Nacht in seiner Krankenbox neben meinem Bett verbrachte und ich ihm stündlich Narkose nachgeben musste. Geplagt von Krämpfen und Übelkeit kämpften wir uns durch die Nacht und ich hatte große Bedenken, ob er überleben würde. Ich konnte es nicht zulassen, dass die Boshaftigkeit eines Menschen das noch junge Leben eines unschuldigen Zwerges auslöscht. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht geben!
Was ist schon eine Nachtschicht gegen ein Leben? Morgen früh um 8:00 Uhr sollte ich fit sein, denn dann beginnen die Kastrationen erneut.
Eineinhalb Tage des Bangens und intensivmedizinischer Betreuung machten sich bezahlt. Das Gift entwich allmählich dem Körper und wir schöpften Mut, auf ein gutes Ende hoffen zu dürfen. Um sicher zu gehen, dass er keine bleibenden Schäden an den Organen hat, nahmen wir ihn mit in unsere Station. Dort bekam er alle Zeit der Welt, um sich erholen zu können. Da er recht wild ist, werden wir ihn bei uns im hinteren Teil des Gartens an unserer Futterstelle ansiedeln. In der Hoffnung, dass er bei uns bleibt und sich in das Rudel der dort bereits Wohnenden integriert, darf er bei uns sein restliches Leben ohne Gefahr, Ängste und Schmerzen verbringen. Eine Station für diese Zwecke zu haben, ist ein Geschenk und wenn wir durch Ihre Hilfe auch das Futter zusammenbekommen, haben wir durch unsere Kastrationsaktion nicht nur ungewolltes Leben verhindert, sondern auch Vorhandenes gerettet. Diesem Scheusal, der das Gift auslegte, möchten wir nie wieder die Möglichkeit geben, die Einzigartigkeit des Lebens grausam hinzurichten.“
Nach 82 Kastrationen in Sitia fahren wir über die östlichste Bergkette Kretas, nach Ierapetra. Und wieder stehen wir vor dem Tor eines ausrangierten Schlachthofes. Gewöhnen wir uns daran? Ja und nein. Kurzzeitig dringt das panische Blöcken der Schafe und das Muhen den Kühe aus der Vergangenheit schmerzhaft und tief in unser Ohr. Dann diese unerträgliche Stille, zeugt sie davon, dass das Messer endgültig ein Leben ausgelöscht hat. Aber die Kehlen, die uns jetzt begrüßen, verstummen nicht. Sie holen uns unverzüglich in die Gegenwart zurück. In eine Gegenwart, die nicht mit dem Tod verstummt, die aber auch nicht unbedingt rosig aussieht.
Generell gilt, dass in beiden Städten der Tierschutzgedanke nie besser umgesetzt wurde, als in den letzten Jahren. Es hat sich zwischen den Tierschützern, den Gemeinden und uns eine Regelmäßigkeit und gegenseitiges Vertrauen eingespielt. Dank dafür ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sehen wir aber bei vielen Tierschützern Verzweiflung in den Augen. Verzweiflung, denn Corona hat auch Existenzängste ausgelöst. Verarmung der griechischen Bevölkerung bedeutet auch eine schlechtere Versorgung ihrer Tiere. Überschüssig gewordenen Vierbeiner werden ausgesetzt und irren verständnislos durch die Gassen. Unsere Tierschützer müssen dann mehr und mehr Tiere auf den Straßen versorgen, obwohl sie selbst auch weniger Geld für Tierfutter zur Verfügung haben. Manche Futterstellen werden deshalb schon nicht mehr mit Futter versorgt. Das stille Leiden nimmt zu.
Mehr als an anderen Einsatzorten im Osten spüren wir diese Verzweiflung in Ierapetra. Seit drei Jahren helfen wir dort offiziell, so oft wir können mit Kastrationen. Takis, ein sehr engagierter Tierschützer, hat in den letzten zwei Jahren ebenfalls mit viel Medienpräsenz Spendengelder generieren können. Er hat dadurch die Kosten für 500 Kastrationen von Privattieren finanziert. Ein absolut tolles Vorzeigeprojekt, welches wir uns in Rethymno erlaubten, in Ansätzen zu kopieren. In der Theorie sind wir in Ierapetra definitiv auf dem richtigen Zukunftsweg. Aber die Praxis der Gegenwart sieht anders aus .
Während ich ein Tier nach dem anderen operiere, überlege ich woran das liegen könnte.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Ierapetra die viertgrößte Stadt Kretas mit 26 000 Einwohnern ist. Das Einzugsgebiet umfasst den gesamten Küstenstreifen bis Makro Gialos, zirka 25 Kilometer vom Zentrum entfernt. In Städten wie Rethymno oder Sitia ist die Anzahl der Streunerhunde definitiv sehr zurückgegangen und das werden wir auch hier schaffen!
Ich beobachte meine Finger und träume davon, wie sie den Nadelhalter und das Skalpell so schnell führen, dass meine Handgriffe zu einer einzigen Bewegung verschmelzen.
Und dann kommt er wieder, mein Moment. Eiligen Schrittes sehe ich im Augenwinkel einen Tierschützer mit einem Karton auf dem Arm an unserem Fenster vorbei huschen. Schwer verletzt, schwer krank oder fast tot - was eilt sonst so schnell in unseren OP? Ich bereite mich darauf vor, die vor mir liegende Hündin in neuer Rekordzeit zuzunähen, damit ich dem Notfall meine ganze Aufmerksamkeit widmen kann. Meine Bewegungen verschmelzen jetzt wirklich.
Wenn es nicht so traurig wäre, ich würde bei dem Blick in den Karton am liebsten lachen. Der Notfall besteht aus sieben winzigen Lebewesen. Ich atme kurz durch und bestelle die nächste Hündin zur Operation. Bis sie vorbereitet ist, kümmere ich mich um die Kleinen. An einer Mülltonne wurden sie gefunden, wohlwissend, dass das höchstwahrscheinlich ihren Tod bedeuten wird. Wie schäbig ist es, anderen oder dem Schicksal die Entscheidung zu übertragen um selber sauber dazustehen?
Unsere Notfälle sind nicht alt genug, ohne die Muttermilch überleben zu können. Nicht alt genug um verstehen zu können, warum die wärmende Mama mit ihrer Milch so abrupt nicht mehr zur Verfügung steht.
Das Licht der Welt in der Realität von Ierapetra zu erblicken, kann ganz schön dunkel sein.
KaWo! Ein Begriff im Tierschutz wie für das Zentrum einer jeden Stadt das Café neo. „Ka“ steht für Karen und „Wo“ für Wolfgang.
Diese beiden kennt hier jeder, denn sie sind sozusagen das Welpenkinderheim von Ierapetra. Diese herzensguten Menschen sind zwar auch an ihren Genzen angelangt, sagen aber zu und damit löst sich die Dunkelheit der Hoffnungslosigkeit im Licht der Zukunft auf.
Ich wende mich der nächsten Hündin zu und entschuldige mich in Gedanken bei ihr. Wie so oft tut es mir unendlich leid, ihr den Bauch aufschneiden zu müssen und ihr kurzzeitig einen gewissen Schmerz zuzufügen, aber wir wären uns -
wenn sie denn reden könnte -
sicherlich einig, dass sie den qualvollen Tod ihrer Kinder schmerzhafter finden würde, als den Raub ihrer Gebärmutter und ihrer Eierstöcke. Wir beide müssen da durch und ich betäube mein eigenes Mutterdasein, indem ich mir die sterilen Handschuhe anziehe und meine Konzentration auf das lenke, was ruhig atmend vor mir liegt.
Allein während unserer dreitägigen Kastrationsaktion wurden zehn Welpen im städtischen Tierheim von Ierapetra abgegeben. Allesamt fand man sie in Mülltonnen oder an anderen verlassenen Stellen, wo sie ihrem Schicksal überlassen wurden. Wer Glück hat, wird von emphatischen Menschen gefunden. Wer noch mehr Glück hat, wird von diesen direkt zuhause aufgepäppelt. Wer mittelmäßig Glück hat, wird im städtischen Tierheim abgegeben.
Wie bei jeder Ansammlung von zu vielen Hunden sind dort enorm widerstandsfähige Parvo- und Staupeviren, die auf nicht desinfizierbaren Böden über Jahre überleben können. Der Infektionsdruck ist extrem hoch. Sie, liebe Leser, wissen seit Corona Zeiten alle, wie wichtig Abstand und Desinfektion sind. Keine Kontakte!
Haben Sie schon einmal ein griechisches Tierheim besucht? Diese Maßnahmen sind hier eine Farce.
So infizieren sich eingelieferte Hundewelpen und sind nach zwei Wochen tot. Wir sprechen hier nicht von Einzelfällen, wir sprechen von einer Anzahl, die nicht tragbar oder besser gesagt, erträglich ist. Dies ist ein immenses Problem in nahezu allen Tierheimen, die wir in südlichen- und osteuropäischen Ländern kennen.
„Arbeite schneller“, hämmert es in meinem Kopf, damit ich irgendwann arbeitslos bin. Schneller, mehr! Volle Konzentration!
Jeder einzelne qualvolle Tod ist einer zu viel. Die Welpen bei ihrem Todeskampf zu begleiten ist für mich persönlich das Schlimmste. Gefühlte 90% versterben in unseren Händen trotz intensivmedizinischer Betreuung. Eine verzweifelte Tierschützerin sagte mir einmal: „das Parvovirus möchte nicht schwächen, das Parvovirus möchte töten!“ Ich denke oft an ihre Worte, wenn ich wieder einmal um ein junges Leben kämpfe und der kleine Körper seinen letzten Atemzug in meiner Hand aushaucht.
So verschmelzen die Stunden mit den Tagen und am Ende meines Einsatzes werden sich 400 Tiere nicht mehr an diesem Elend mit ungewollten Nachkommen beteiligen können.
Und wer wissen möchte, wie ich aus meiner Treppe herauskomme? Ganz einfach. Ich betrachte immer nur die nächste Stufe. Meine nächste Stufe. Mehr nicht.
Ihre Melanie
Helfen
Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
Jeder bekommt eine Chance auf ein besseres Leben! All das wird nur möglich durch Ihre Spende!
In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.
In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:
Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer
TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de