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Begegnungen

Im Einsatz für die Arbeitspferde - Herbst 2021

Ein Bericht von Yvonen Binder, Tierärztin

Nach zwei Tagen und zwei Nächten im Bus kommen wir entspannt in Sapartoc an, dem Ort, der das „Eselparadies“ beherbergt, mitten in den sanften Hügeln um Schässburg, rumänisch genannt Sighisoara.
Für mich ist es eine Reise in die Vergangenheit. Auch wenn ich nicht in diesem Land geboren bin, gäbe es mich ohne dieses Land nicht. Meine Eltern sind dort aufgewachsen – im deutschsprachigen Teil - und haben mir viel davon erzählt. Wunderschöne Landschaften, historische Städte und Burgen und ein nicht geringer Anteil an Menschen, die in großer Armut leben, das war meine Info.

Verwandte und Bekannte hatten wir dort keine mehr, aber irgendwie ließ mich das Land nie ganz los. Als Gregor, mein Hufschmiedekollege, mir dann von der Situation der Arbeitspferde in dem Land erzählte und mir den Bericht über die Renovierung der Scheune in Sapartoc schickte wurde ich neugierig. Er machte mir den Vorschlag doch mal mitzukommen um zu Helfen, gerne auch als Tierärztin, denn den Pferden der Menschen in der Siedlung in Albesti, einem Ort bei Sighisoara, fehle es vollständig an medizinischer Grundversorgung.
Es wurden also ein lokaler Tierarzt - ohne dessen Unterstützung wir dort nicht tätig werden dürften - und einige Einsatztage organisiert.

Der Plan war, sich erst einmal einen Überblick über die Situation der Pferde in der Siedlung zu verschaffen, sie zu entwurmen und gegen Tetanus zu impfen. Ausserdem sollte eine Bestandsaufnahme gemacht werden, was man in Zukunft dort tun könnte.
Unser Besuch wurde einen Tag zuvor von Gabriel, unserem lokalen „V-Mann“ und Gregor im „Gitan Land“, wie es auf Google Maps zu finden ist, angekündigt für Dienstag, den 21.09.21 um zwölf. Die Deutschen waren wieder mal pünktlich auf die Minute und sonst war keiner zu sehen.
Also verbrachten wir die Zeit damit, den Vizebürgermeister der Gemeinde zu treffen und mit ihm über unser Anliegen, den Arbeitspferden zu helfen, zu sprechen. Wir erfuhren ein wenig mehr über die Situation der sozial schwachen Menschen in den umliegenden Dörfern. Die Behörden haben Schwierigkeiten, mit ihnen in Kontakt zu kommen, die Pferde leben dort mehr oder weniger illegal, viele der Menschen bekommen Sozialhilfe, aber auch viele von ihnen sind auf Grund nicht bezahlter Strafen dazu verpflichtet worden, Sozialstunden abzuleisten, bestehend aus Grünlandpflege und Müllsammeln - soweit wir das beurteilen konnten. Es gab eher wenig Bereitschaft, mit uns ein Konzept zu entwickeln in dem die Gemeinde fest mit eingebunden ist und gemeinsam etwas an der Situation zu verbessern.
Dennoch freute man sich über unser Engagement, lud uns für die Zukunft wieder ein und stellte uns ein altes Stallgebäude im Nachbardorf in Aussicht, das man zur stationären Schmiede umbauen könnte.
Gut, damit konnten wir vorerst leben. Wir wissen, dass wir mit anderen lokalen Hilfsorganisationen zusammen einen Plan entwickeln müssen um längerfristig etwas bewirken zu können.
Als wir dann zwei Stunden später wieder durch die Siedlung fuhren, waren schon ein paar Jungs und Männer mit ihren Pferden zugegen.

Die „Jungs“ waren etwa zwischen 12 und 16 Jahre alt, meist mit gefärbten Haaren oder tätowiert, ein paar erwachsene Männer waren auch zugegen und die Pferde zwischen 135 und 145cm Stockmaß - mal im schmächtigen und mal im kräftigen Format.
Gregor und ich machten erst einmal eine Bestandsaufnahme, fragten nach dem Namen des Pferdes, bewerteten den Pflege- und Ernährungszustand, notierten Verletzungen, checkten den Zahnstatus und schätzten das Alter. Die Untersuchung des Pferdemauls, durchgeführt von einer weiblichen Tierärztin versetzte die Jungs in Erstaunen – das hatten sie vorher wohl noch nicht gesehen. Die Pferde mussten alle vortraben, damit wir Lahmheiten notieren konnten.

Gabriel, unser Dolmetscher und der Einzige, der die Jungs schon länger kannte, übersetzte ihnen die Befunde, wobei besonders meine Schätzung des Zahnalters mit Interesse verfolgt wurde.
Die Besitzer brachten nun Pferde, die sie von Geburt an hatten und wollten, dass ich das Zahnalter schätze, um zu sehen wie präzise ich bin. Ein weiterer Schritt für uns zu beweisen, dass wir vertrauenswürdig sind.  
Die Zustände der Pferde waren im Prinzip so wie ich sie mir vorgestellt hatte, eigentlich hatte ich Schlimmeres erwartet - mehr äußere Verletzungen und mehr Lahmheiten.

Ich bin froh, dass es nicht so ist. Die meisten der 13 Pferde waren von Parasiten befallen, die Eier der Magendasseln im Fell, der Ernährungszustand mager bis durchschnittlich, größere Verletzungen oder Geschirrdruck zum Glück wenig zu sehen, dafür einige Verletzungen im Maul, verursacht durch unsachgemäßen Gebrauch von Gebissen und Fahrzäumen.

Wir notierten uns besonders die Pferde, die unbedingt ein neues Gebiss, neues Zaumzeug oder eine Zahnbehandlung brauchten und sagten den Besitzern, sie sollten am nächsten Tag wieder kommen, damit die Pferde behandelt werden konnten.
Ein Schicksal bleibt in besonderer Erinnerung. Eine Stute und ihr wenige Stunden altes Fohlen.
Wir wurden gebeten, mit in die Siedlung zu kommen und ein Fohlen anzusehen.
Der Weg von der Straße führte durch den kleinen Bach, auf schmalen, matschigen Pfaden zwischen den Häuschen hindurch zu einer Gasse, in der ein Wagen stand, an dem eine Stute angebunden war. Ein Fohlen lag in Decken gehüllt auf der Seite auf dem Boden und hatte die Augen geschlossen.
Als wir näher kamen, nahm die junge Frau, die sich um die Pferde kümmerte, die Decke vom Fohlen, so dass ich es mir ansehen konnte.
Es regte sich kaum. Ich hörte es ab, sah mir Augen, Maul und Nabel an und hörte mir seine Geschichte an. In der vergangenen Nacht war es sehr kalt gewesen, nur knapp über dem Gefrierpunkt, die Stute war auf der Koppel und hatte dort unbeaufsichtigt das Fohlen zur Welt gebracht. Es muss dort einige Stunden in der Kälte im nassen Gras gelegen haben, bevor die Besitzer die beiden fanden.
Es hatte kaum Saugreflex, war immer noch unterkühlt, hatte ganz blasse Schleimhäute und das Herz schlug schon sehr langsam. Fohlen sind in den ersten Stunden nach ihrer Geburt sehr empfindlich. Lernen sie nicht innerhalb weniger Stunden zu stehen und trinken die nahrhafte Biestmilch, kann sich ihr Zustand schnell verschlechtern.
Sie zeigten mir die Babyflasche, in die sie Muttermilch abgemolken hatten und wie sie das Fohlen versucht hatten zu füttern. Es war rührend wie sie sich sorgten.
Leider war es unter den gegebenen Umständen nicht möglich zu helfen. Das Fohlen hätte sofort in eine Klinik transportiert werden müssen um Wärme, Infusionen, Plasmainfusionen und  Medikamente zu erhalten. Doch einen Transport in die Klinik hätte es vermutlich nicht einmal überlebt. Es war schon zwischen den Welten. Wir packten es gemeinsam mit den Besitzern in Decken gehüllt auf eine trockene Liegefläche in den Wagen, an dem die Mutterstute angebunden war. Es war rührend zu sehen, dass ein Kopfkissen zurechtgerückt wurde um es dem kleinen Patienten so bequem wie möglich zu machen. Wir erklärten den besorgten Besitzern, sie sollen versuchen, es jede Stunde zu füttern und warm zu halten.

Ich wollte ihnen nicht die Hoffnung nehmen. Ich wusste aber, dass es schon zu spät war. Das Fohlen würde innerhalb weniger Stunden in die andere Welt hinüber gleiten.

 

 

Geprägt von den Eindrücken des ersten Tages waren wir alle recht bedrückt wieder bei den Eseln in Sapartoc angekommen. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich dem Fohlen nicht helfen konnte.
Aber wir sind hier nicht in Deutschland. Das Fohlen war ein Intensivpatient, schon mehr tot als lebendig, und dann stellte sich auch die Frage: welches Leben erwartet es?
Hätte es die ersten Tage überlebt, wäre es vermutlich immer anfällig und schwächer als Gleichaltrige gewesen – keine guten Voraussetzungen - erwartet ihn doch eines der härtesten Pferdeleben überhaupt.
Die Menschen haben die Pferde nicht als Hobby. Sie brauchen sie zum Überleben. Sie bekommen Sozialhilfe vom rumänischen Staat und haben sonst keine Transportmittel. Keine Autos, keine Motorräder, keine Traktoren, vielleicht ein Fahrrad. Sie spannen die Ponies an, um Holz zu holen, um in die Stadt zu kommen, um Sozialstunden abzuleisten. Auf hartem Boden, auf rutschigem Morast, tagein, tagaus, bei plus 35 oder bei minus 20 Grad.
Ich bin mir sicher, dass sie irgendwie ihre Pferde lieben, sie sind ihnen nicht egal. Sie gehen nur anders mit ihnen um. Sie haben es nicht anders gelernt. Sie nennen die Wallache und Hengste „Janczi“ und die Stuten „Dora“. Individualität gibt es da nicht. Das Arbeitstier muss funktionieren.
Wenn es nicht funktioniert, versucht man es auch mit Gewalt, wenn man es nicht gefügig machen kann, wird das Tier verkauft.

Wo in Deutschland manchmal der Pferdepsychotherapeut gerufen wird wenn man nicht mehr versteht was einem sein Pferd sagen will, kommt dort nicht mal der Tierarzt zu den Ärmsten der Armen, geschweige denn, dass das Pferd freien Zugang zu sauberem Wasser, ausreichend Futter und einem trockenen Unterstand hätte.
Die Behörden mischen sich so wenig wie möglich in der Siedlung ein, müsste doch jedes Pferd gechippt sein, einen Pass besitzen und jährlich einem Coggins-Test unterzogen werden, um festzustellen, ob es Träger der Equinen infektiösen Anämie ist – einer schweren Seuche die in den Ostländern der EU im Umlauf ist. 

Doch die Jungs wissen ganz genau: wenn sie ihre Pferde chippen lassen, wissen die Behörden, dass sie Besitz haben und dann wird die dringend benötigte Sozialhilfe gestrichen. Oder sie müssen die Pferde wieder verkaufen.
Und wenn ein Pferd positiv wäre, würde es ihnen weggenommen und notgetötet werden, um diese schwere Pferdeseuche einzudämmen.
Nachdem wir die 13 Pferde untersucht haben, schaue ich mich noch einmal um, bisher habe ich nur jedes einzelne Tier mit seinem Besitzer wahrgenommen. Ich kann kein rumänisch, aber eigentlich zählen hauptsächlich die Gesten, wenn ich mit dem Besitzer zusammenarbeite. Ich bin erstaunt, wie umgänglich die harten Jungs sind. Eine sanfte Berührung, ein zustimmendes Lächeln, ein freundliches Nein, ein bestimmtes Führen der Hand wo er sein Pferd jetzt halten soll.
Ich rede unablässig mit den Pferden, beruhige sie mit einer sanften Tonlage in der Stimme und aus dem energischen „Ho!“ aus dem Mund der Jungs werden ruhige, freundliche Worte, um das Pferd beim Untersuchen zu besänftigen.
Das letzte Pferd wird weggeführt, ich atme durch und denke mir - wo bin ich hier eigentlich gelandet?

Die für das kalte Wetter unzureichend bekleideten kleinen Mädchen mit der Gänsehaut, die taffen Jungs mit ihrem rauen Umgangston, den Lederjacken, den Tattoos, Ohrringen und den gefärbten Haaren, die scharf auf die Messer von unserem Hufschmied Gregor sind und Steine nach den Pferden werfen, um sie zum Traben zu bewegen, die verflohten Hunde und Katzen, die im Müll wühlen, die Welpen, die miteinander spielen und raufen, das Schwein in seinem Verschlag auf Stelzen, der total vermüllte Bach mit dem schmutzigen Wasser, ein paar Jugendliche mit ihren Plastiktüten, aus denen sie tiefe Züge Klebstoffdämpfe nehmen, das Pferd, das an dem großen Müllcontainer an der Straße angebunden wird und dort zwischen Abfällen sein Gras oder Heu bekommt - unser Titelbild.
Wir machen ein kurzes Resumée auf der Heimfahrt, den Lehm- und Schotterweg hinauf mit den tausend Schlaglöchern.

Können wir da wirklich was bewirken? Wir werden sehen. Fest steht, wir können nicht wegsehen. Wir können nicht ein Paradies für Esel betreiben und wenige Kilometer weiter liegt ein Dorf, in dem nicht mal alle Menschen genügend Essen und Kleidung haben.
Das Wetter macht uns leider einen Strich durch die Rechnung, darum verschieben wir den Behandlungstag auf Donnerstag, den 23.09.21.
Wieder in der Siedlung angekommen, treffen wir Aron, den ungarisch-rumänischen Tierarzt und seine Helferin vor dem eingezäunten Haus einer schwedischen christlichen Hilfsorganisation.
Es warten schon ein paar bekannte Gesichter und Fellnasen vor dem Tor.

Nach einigem Hin und Her ist dann abgemacht, wer als erstes an den Behandlungsplatz kommen darf.
Aron und ich tauschen uns kurz aus, wie wir vorgehen, und merken schnell, dass wir den gleichen Stallgeruch haben. Wir haben fast zeitgleich in Budapest Tiermedizin studiert und schwelgen kurz in alten Erinnerungen an unsere früheren Professoren, während der erste Patient herein geführt wird.
Der kleine magere Schimmel war mir vorgestern schon aufgefallen. Er hatte einen zu eng sitzenden Fahrzaum auf, der auf die Augen drückte und hinten links nur noch ein halbes Eisen, das Gregor unverzüglich entfernt hatte. Er hatte so eine Angst in den Augen, als Gregor an sein Hinterbein ging und wollte nur noch weg.

Das Geschrei der Besitzer hatte ihn natürlich auch nicht wirklich beruhigt. Was ihn beruhigt hat, war gutes Zureden, am Halfter halten und streicheln.
Dann war es kein Problem, mit einem geübten Handgriff das Eisen zu entfernen. Mir war bei der Untersuchung des Mauls auch schon aufgefallen, dass die Zunge mittig ganz vernarbt war, vielleicht wurde er mal mit einem Strick durchs Maul irgendwo angebunden. Die Schmerzen müssen furchtbar gewesen sein.

Heute bekam er seine wohl verdiente Zahnbehandlung, die erste Tetanusimpfung und eine Entwurmung gegen Magendasseln, Strongyliden und Spulwürmer. In sediertem Zustand konnte man nun auch die Zunge besser in Augenschein nehmen und sah die relativ frische, tiefe Schleimhautverletzung auf der alten Vernarbung. Natürlich hat „Janczi“ auch ein passendes Reithalfer mit Wassertrense bekommen, um ihn von dem unpassenden Fahrzaum und der Kandare zu befreien.
Und das ist nur ein Schicksal von den 18 Pferden die da waren.

Ich könnte über jeden einzelnen schreiben. Aber das würde den Rahmen sprengen.
Alles in allem haben wir jedem Pferd ein neues Halfter und ein neues Gebiss verpasst, die Patienten, die Verletzungen im Maul hatten, haben auch Reithalfter bekommen, da wir davon nicht genug für alle hatten.
Das war nicht ganz einfach. Die Jungs gebärdeten sich wie kleine Kinder. Der Andere hat dies oder jenes bekommen, sie wollen natürlich mindestens genauso viel.
Und wenn man nicht aufpasst, bedienen sie sich auch mal selbst. Wie geht man mit dieser Mentalität um?

Wir haben noch nicht die Lösung. Im Moment geben wir einfach. Wir statten sie einmal mit der Grundversorgung aus.
Denn wir im Westen haben von allem reichlich. So fühlt man sich auch, wenn man wieder nach Deutschland zurück kommt.
Unsere Probleme erscheinen so nichtig im Angesicht der Tatsache, dass woanders so viel dringender Hilfe gebraucht wird.
Also werden wir zurückkommen. Wir wollen, dass zumindest vor Ninas rumänischer Haustüre gekehrt wird.

Wir wollen, dass Menschen und Tiere im nahenden Winter nicht frieren müssen, dass ihre Tiere mit genügend Hufeisen ausgestattet sind, so dass sie ohne Schmerzen ihre Arbeit leisten können.
Und wir wollen, dass sich langfristig etwas ändert. Aber jetzt erst einmal Schritt für Schritt.
Danke an den Tierärztepool, dass ihr mich habt teilnehmen lassen an dieser bewegenden Reise!
Danke an Nina, Delia, Thomas, Gregor, Gabi und Daniel für die herzliche Aufnahme!

Eure Yvonne

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  ACE - Tiere in Not (Epanomi)

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