Mirabella

Mirabella
Über manche Dinge schreibt es sich nicht so einfach. Doch vielleicht sind es gerade diese Dinge, die wichtig sind auszusprechen. Auch wenn es vielleicht nur darum geht, etwas Gewicht von der eigenen Seele zu nehmen.

Mirabella sah ich zum ersten Mal vor genau einem Jahr. Ein winziges Pony in armseligem Zustand. Die Besitzer präsentierten sie uns stolz als ihre neueste Errungenschaft, als Spielzeug für die Kinder. Eine Idee, die für mein Empfinden schon damals
vorprogrammierte, wohin das Ganze führen würde. Kinder in der Verantwortung Sorge für ein Pony zu tragen, Kinder die selbst in bitterster Armut heranwachsen, denen es selbst an vielen lebensnotwendigen Dingen fehlt, Kinder, denen nie etwas von Verantwortung beigebracht wird. Kinder, die keine geregelten Tagesabläufe kennen, Kinder, für die Gewalt an der Tagesordnung ist. Und das ganze mitten in einem Schauplatz aus Müll, Dreck und Hoffnungslosigkeit.
Damals wendete ich mich traurig ab. Mit einem Kloss im Hals und einem üblen Gefühl im Magen.

Ein Jahr später sehe ich nur ein Video von ihr. Und dieses Video trifft mich mitten ins Herz, es lässt mir keine Ruhe mehr. Gabriel hat so bei einer Entwurmungsaktion der Arbeitspferde in diesem Dorf wiedergesehn. Er war entsetzt von ihrem Zustand, versuchte mit dem Besitzer ins Gespräch zu kommen, dieser jedoch war in keinster Weise einsichtig, wie schlecht es um sie stand. Sie war erbärmlich verdreckt, abgemagert, ihre Hufe in katastrophalem Zustand, auf wackeligen Beinchen kam sie dahergestolpert. Die nächsten Tage kreisen die Gedanken darum, wie man ihr helfen könne. Eines steht fest, unter den dort herrschenden Zuständen machte jeder Versuch, den gesundheitlichen Zustand zu verbessern, kaum Sinn. Zumal der Besitzer nach wie vor nichts von alledem hören wollte.

Dann plötzlich steht dieser vor uns, aufgebracht, tobend. Du würdest sterben, könntest Dich nicht mehr auf den Beinen halten und wir hätten das alles mit unserer Entwurmung angerichtet. Es entsteht ein Tumult. Ich bin währenddessen am Operieren, die Kastrationsaktion in Sighisoara ist in vollem Gange. Ich bin an den OP Tisch gefesselt und kann nicht weg. Doch mein Entschluss steht fest und ich rufe zu Gabriel: "Bring sie zu uns nach Hause, egal wie"

In der kommenden Stunde wage ich kaum zu atmen. Bekommen wir sie frei? Hat sie eine Chance? Und wie kann sie zu uns transportiert werden? Letztlich geht alles ganz schnell. Gabriel kommt zurück mit den Worten: "Ich habe sie nach Hause geholt."

Und so stehe ich plötzlich vor Dir und alles, was ich in diesem Moment sagen kann ist: "Es wird nie wieder jemand böse zu Dir sein, das verspreche ich Dir. Wir werden uns so gut um Dich kümmern, wie es nur irgendwie geht." Unsere Augen treffen sich und da ist eine Verbindung, die ich mir nicht erklären kann. Eine schmerzliche Verbindung, denn es ist, als ob ich all Dein Leid spüren kann. Ich sehe all die Jahre sträflicher Vernachlässigung vor mir. Ich sehe Dich in Deinem dunklen winzigen Verschlag, tief in Kot, Urin und Schlamm eingesunken. Ich sehe das schimmelige Brot und die Maiskolben, die Dein Futter waren. Ich sehe, wie die Kinder an Dir zerren, auf Dich einschlagen, von links nach rechts ziehen und ununterbrochen auf Dich einbrüllen. Du erträgst das alles mit hängendem Kopf. Still, duldsam, niemals bereit Dich zu wehren.

So liegst Du nun also in unserem Garten und bist ein solch erbärmlicher Anblick, dass es mir schwerfällt, rational eine medizinische Bestandsaufnahme vorzunehmen. Zumal diese niederschmetternd ist. Du bist extrem schwach, kannst nur kurz stehen, sackst dann zusammen und kannst alleine nicht mehr hoch. Deine Hufe sind in grauenvollem Zustand, zudem leidest Du unter einem akuten Reheschub. Du bist extrem abgemagert, Deine Zähne sind eine Katastrophe. Du bist übersät von Haarlingen und Dein Körper ist von einer Schicht festgeklebtem Kot überzogen. Ziemlich sicher leidest Du unter Cushing. Eines Deiner Hinterbeine ist im Knie instabil und fehlgestellt. All das macht wenig Hoffnung. Doch Du siehst nicht aus, als ob Du schon von uns gehen willst, Du freust Dich so sehr über das gute Heu, das wir Dir anbieten und über unsere freundliche Ansprache. So dass wir uns alle einig sind: Mirabella muss eine Chance bekommen.

Es folgen Wochen, die sehr hart sind für uns. Du brauchst intensive Pflege rund um die Uhr. Nur mit Hilfe einer Vorrichtung ist es Dir möglich länger zu stehen. Möchtest Du Dich hinlegen, müssen wir Dich daraus befreien und Dich später wieder aufstellen. Es muss also immer jemand in Deiner Nähe sein. Doch dies ist nicht, was uns belastet, viel mehr ist es unsere Hilflosigkeit und der innige Wunsch, Dein Schicksal zum Guten zu wenden. In Gedanken plane ich schon einen Stall für Dich und mit wem wir Dich vergesellschaften könnten. Ein bisschen wage ich sogar davon zu träumen, Du könntest uns irgendwann auf Spaziergängen begleiten. Doch mehr und mehr wird uns Deine verzweifelte Lage bewusst und dass wir wohl zu spät kommen mit unserer Hilfe. Wir tun, was wir können, Tierarzt, Hufschmied, Zahnsanierung, Spezialfutter aus Deutschland. Die Anteilnahme aus Deutschland ist groß, eine speziell für Dich angefertigte Decke wird gespendet.

Doch unser Kampf ist verzweifelt. Bis ich eines feststelle: Es sind wir, die verzweifelt kämpfen. Nicht Du. Du wirkst zufrieden. Ich denke, Du hattest nie in Deinem Leben so weich in frischem Stroh gelegen, nie so gutes Heu zu fressen bekommen, nie war stets frisches Wasser zur Verfügung. Immer waren freundliche Menschen um dich, die mit dir sprachen, die Dich kraulten. Du hast es offensichtlich genossen, in Gesellschaft zu sein und unsere Hunde waren ganz besonders tolle Krankenpfleger. Besonders Pflegehündin Rika wich Tag und Nacht nicht von Deiner Seite, schlief neben Deinem Kopf. Selbst als Deine Kräfte Dich verließen, war das noch immer so friedvoll, so würdevoll, so natürlich. Kein Kampf, kein Hadern.
Haben wir es tatsächlich geschafft, dass Du in Frieden und Würde gehen konntest? Konnten wir wenigstens ein wenig von dem wiedergutmachen, was Dir angetan wurde?

Als ich die Nachricht erhalte, dass Du von uns gegangen bist, bin ich einige hundert Kilometer entfernt, denn ich bin im Kastrationseinsatz. Doch Gabriel war bei Dir geblieben und nicht von Deiner Seite gewichen bis zuletzt. In dem Moment, als ich die Zeilen lese, betrete ich mit meinen Hunden gerade ein kleines Waldstück. Es ist so friedlich und ruhig. Alles beginnt zu sprießen und blühen. Und ich habe das Gefühl, Du läufst neben mir. Ich tröste mich mit diesem Gedanken und weiß, dass ich Dich in Zukunft noch öfter im Geiste mit auf meine Spaziergänge nehmen werde.

Kleine Mirabella, Du hast einen ganz großen Platz in meinem Herzen. Niemals werde ich Dein leises Wiehern vergessen, wenn Du mich gesehen hast. Du hast mich viel gelehrt, in erster Linie vom Annehmen und Akzeptieren mancher Dinge. Und ich musste erkennen, dass es nicht immer meine Aufgabe ist zu heilen, sondern manchmal einfach nur da zu sein. Ich danke Euch allen, die für Mirabella gehofft und gebetet haben.
Von Herzen Danke an Gabriel. Und an Rika.
Ihre Nina Schöllhorn