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Priesemut

Ein Bericht von Nina Schöllhorn, Tierärztin

Wie kommt ein Hund zu solch einem Namen? Dies darf ihnen meine Kollegin Janina später erzählen.

Ich fange die Geschichte am Anfang an, da hatte er noch keinen Namen. Er hatte auch sonst nicht viel, einen winzigen Zwinger und eine nasse Palette, das war alles. Doch eins war er, er war definitiv der armseeligste Hund unter den 300 Hunden in diesem Tierheim. Sein Körper war in erbarmungswürdigem Zustand, jeder Knochen zeichnete sich ab und großteils war sein Körper kahl. Doch besonders schlimm war der stark ausgeprägte Staupetick, zuckend drängte er sich an die kalte Wand seines Zwingers. Ein furchtbar trauriger Anblick, der mich erschauern lies. Ich versuchte näheres über den Hund herauszubekommen, doch die Tierheimmitarbeiter winkten nur ab, er sei nicht freundlich und würde sich nicht anfassen lassen.

Ich blickte in viele Hundeaugen an diesem Tag, führte viele Gespräche, traf wichtige Entscheidungen was ein zukünftiges Projekt anging und mein Kopf war voller Eindrücke. So rückte ER etwas in den Hintergrund. Am Abend stellte ich Bilder des Tages in unsere Rumäniengruppe, natürlich waren alle entsetzt, besonders von ihm. Doch eine war ganz besonders betroffen und das war Janina. Sie lies nicht mehr locker und fragte alle paar Tage nach ihm. Ich war inzwischen weitergereist und es war kaum möglich mehr Informationen zu bekommen. Einen Monat später war ich wieder auf dem Weg zu diesem Tierheim. Mit im Gepäck den Auftrag von Janina: „wenn der sich doch anfassen lässt, dann schickst du ihn zu mir!“. Es gab auch andere Stimmen und durchaus die Überlegung ob überhaupt ein lebenswertes Leben für ihn möglich wäre und ob es wirklich sinnvolles ist solch kranke Tiere zu retten oder ob man nicht besser jenen eine Chance gibt, die gesund sind.

Tatsächlich saß er noch im selben Zwinger, es bot sich mir genau der gleiche traurige Anblick wie damals. Als ich die Zwingertür öffnete, wies man mich erneut darauf hin, dass er beißt. Langsam und mit freundlicher Stimme näherte ich mich. Er machte in keinster Weise einen aggressiven Eindruck! Schließlich wedelte er vorsichtig mit dem Schwanz und kurze Zeit später drückte er seinen Kopf in meine Hände. Das Erstaunen aller Beteiligten war groß, vor allem als ich im Weitergehen erwähnte, dass ich diesen Hund mitnehmen würde. Er reiste also mit mir mit und wurde aufgepäppelt. Mit dem Moment als er den schrecklichen Zwinger verließ, begann sein neues Leben, das schien er zu spüren! Von Tag zu Tag nahm er an Gewicht zu, das Fell begann nachzuwachsen, die Augen begannen zu leuchten und sogar das Ticken wurde etwas weniger. Schließlich war es soweit und er konnte die Reise nach Deutschland antreten, wo Janina schon auf ihn wartete.



„Schau mal Spatz, das wird unser neuer Pflegehund“,  waren meine Worte zu meinem dreijährigen Sohn, „wie sollen wir ihn nennen?“ „Priesemut“ kam es sofort von ihm, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Er mag die Geschichten von „Nulli und Priesemut“, ich mag sie auch, war jedoch kurz irritiert von dieser Namenswahl. Warum nicht, wie passend, es gehörte ja auch eine „Priese Mut“ dazu diesen Hund kommen zu lassen.

Als die Tierärztin Nina Schöllhorn vom Tierärztepool damals das kurze Video von ihm in unsere Tierschutzgruppe stellte, war es wie ein Stich ins Herz. So verloren, teilnahmslos und doch verzweifelt wirkte diese Kreatur. Ich schätzte ihn auf zirka zehn Jahre, kurz davor mit seinem Dasein abzuschließen. Es begann das Grübeln, darf man so sterben, ohne je ein Bettchen gehabt zu haben, ohne eine liebevolle, zärtliche Berührung, ohne Trost? Was hatte er wohl erlebt? Wie war er dort hingekommen? Natürlich versucht man diese Bilder beiseite zu schieben, es sind so unendlich viele, so viele verzweifelte Blicke, so viel Traurigkeit, welchen soll man retten? Hat nicht jedes Lebewesen ein Recht auf ein Leben mit Liebe und Freude? Oder sollte man nicht lieber die jungen, noch gesunden retten? Nina sagte mir, er wäre angeblich nicht händelbar, was ja unter den dortigen Bedingungen durchaus möglich wäre, ist dann aber natürlich eine große Aufgabe und ich wollte gerade eigentlich keinen Pflegehund aufnehmen. Aber es ließ mich nicht los, also fragte ich wieder und wieder. Als Nina dann schrieb: „Wenn du ihn definitiv nimmst und er sich anfassen lässt, hole ich ihn raus, aber in diesem Zustand muss er zu dir, um erstmal zu schauen, ob er ein lebenswertes Leben führen kann.“ Das konnte ich nun nicht mehr umgehen, wer A sagt… . Also sagte ich: „Ja, hol‘ ihn raus!“

Dann die Nachricht, er lebt, ist ein sehr netter Kerl und - ach – übrigens, der arme Kerl ist höchstens zwei Jahre alt und hat sein Leben noch vor sich.“ Da war ich sprachlos!

Ich war sehr aufgeregt, als ich ihn abholte. Ein Hund in der Größe und in dem Zustand bedeutet natürlich viel Management. Wie wird er auf die Katzen und auf das kleine Kind reagieren? Klar, Sicherheit geht vor, daher wird das zu Beginn meine ganze Aufmerksamkeit brauchen.

Am Transport angekommen nehme ich ihn gleich auf den Arm und trage ihn erstmal sicher ins Auto. Er hat bereits zugenommen. Schüchtern schaut er mich an, ich könnte weinen, ich hatte eine Woche Zeit, mich in diese Situation hinein zu steigern und nun ist er da. Ihn jetzt mit Liebe zu überschütten würde ihn aber sicherlich sehr überfordern. Ich halte mich also an mein übliches Schema: er wird gebadet (der Geruch ist wirklich schwer auszuhalten - lieber direkt alles Unangenehme erledigen, dann kann das neue Leben starten). In der Klinik lässt er alles über sich ergehen, kein Zucken, Knurren oder Schnappen. Er steht einfach da, zwischendurch ein verhaltenes Wedeln, nicht mal Flüchten scheint für ihn eine Option zu sein. Ich spüre seine Furcht und bin beeindruckt von dieser beherrschten Art mit dieser Situation umzugehen. Frisch gebadet und  noch einmal entwurmt geht es von der Klinik nach Hause. Er dreht eine große Runde durch den Garten um alles zu „erledigen“, die große gemütliche Box ist vorbereitet, Wasser und Futter stehen bereit. Es ist mitten in der Nacht als wir Zuhause ankommen. Wir sind beide fertig und er beginnt sofort zu fressen und legt sich hin. Er schaut mich schon weniger misstrauisch an, fast erleichtert lässt er sich fallen. An seine Zuckungen muss ich mich noch gewöhnen. Gute Nacht, Priesemut, auch wenn der Weg durch die Tür in die Wohnung sehr ungewohnt war, schläft er in seiner ersten Nacht ruhig und lange. Du hast es geschafft!

Er entwickelt sich toll. Wenn er einmal überfordert ist mit einer Situation, bleibt er einfach stehen oder legt sich hin. Er wird kommentarlos durch die eine oder andere Situation getragen und das ist ok. Er läuft immer zuverlässiger an der Leine und ist für Leckerchen bereit zu arbeiten. Mein Kind ist vom ersten Tag an kein Problem, auch die Katzen werden sofort akzeptiert. Er kommt von Anfang an mit zur Arbeit und liegt zufrieden im Aufenthaltsraum, mit anderen Hunden hat er überhaupt keine Probleme. Manche Hunde und vor allem viele Menschen reagieren irritiert auf seinen ausgeprägten Staupetick. Menschen, die hinter meinem Auto herfahren sehe ich im Rückspiegel lachen, weil er durchgehend, wie ein „Wackeldackel“ mit dem Kopf nickt. Priesemut stört das anscheinend nicht, er blüht auf, beginnt zu fordern: Spielen, Kuscheln, Essen. Er liebt alles was man kauen kann (Kauwurzel, Tau, Kong, Stöcke, Schuhe), freut sich über Besuch und springt bereits nach zwei Wochen in den Kofferraum. Mit meinem Sohn ist er absolut liebevoll und ohne jede Furcht. Oft liege ich abends mit ihm im Körbchen und freue mich über seine fordernde Art zu kuscheln, habe mich an seine besondere Art zu Atmen (ist aufgrund seines Ticks sehr viel lauter) gewöhnt, und wir denken gemeinsam darüber nach, wie viele Priesemuts dort draußen gerade kämpfen und vielleicht die Priese Mut oder Glück fehlt, damit auch sie ihre Chance bekommen. In jener Nacht, in der ich ihn begrüßen durfte, wurde meine Welt wieder ein wenig friedlicher. Er steht für so viele andere aber ihn trösten zu können, tröstet mich. Alle die ihn kennenlernen durften, können kaum glauben was aus diesem Tier geworden ist. Wen rettet man, wer bekommt eine Chance? Warum rettet man dieses und nicht das andere Tier. Am Ende kann ich nicht sagen, warum ich mich für welches Tier entschieden habe, und ich bin sehr froh, dass ich hier in Deutschland sitze und nur am Rande diese Entscheidungen treffe. Dort vor Ort zu sein, ist die größte Belastung, die ich mir vorstellen kann und ich weiß, ich würde mich verlieren, in der Verzweiflung und der Traurigkeit.  „Denk an die, die du gerettet hast, nicht an diejenigen, denen du nicht helfen konntest“. Das tröstet vielleicht oberflächlich aber hilft dir vor Ort auch nicht, denn jedes gerettete Tier zeigt dir, dass sich jeder Aufwand lohnt und es keine Auswahlkriterien gibt, die fair wären, für die, die dann zurückbleiben.
Priesemut hat inzwischen einen eigenen Instagram-Account „eine.priese.mut“ und lebt bei meiner Schwester und ihrem Freund, mitten in Köln. Sie wollte nie einen eigenen Hund, auch wenn sie Hunde immer toll fand. Als die beiden aber Priesemut kennenlernten, war es um sie geschehen. Es war, wie sie sagt, einfach ihr Hund. Da möchte ich nicht im Weg stehen und freue mich, mich nicht wirklich trennen zu müssen und weiter zu sehen, wie er sich entwickelt. Mein Sohn hat schon recht, wenn man ihn fragt, warum er ihm diesen Namen gegeben hat, sagt er einfach ganz empört: “Weil er doch nun mal so heißt!“ Als wäre das einfach schon immer so.

Danke, liebe Nina, für diesen ganz besonderen Hund, mal wieder!!!

 

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