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Rumänien - Zwischen Redoxreaktionen und Tierliebe

Ein Bericht von Miriam Klann, Tiermedizinstudentin

Durchgefallen. In Chemie. Da lernt man wochen-, monatelang und fällt am Ende doch durch die Prüfung. Ich bin niedergeschlagen, demotiviert. Warum tue ich mir das an? Wo ist da überhaupt der Sinn? Während meine Freunde das sonnige Herbstwetter im Park genießen, sitze ich vor meinem Schreibtisch und versuche Redoxgleichungen aufzustellen... Ich möchte doch Tierärztin werden und nicht Chemikerin. Das ist der Plan. Meine Konzentration schwindet, ich brauche eine Auszeit. Eine Pause vom Corona-bedingten online-Uni-Alltag, Pause von meinem Schreibtisch, Pause von Chemie, Pause von Redoxgleichungen. Ich will raus, weg von der Theorie, wieder rein in die praktische Arbeit. Es kribbelt in meinen Fingern. Nina ruft nach Hilfe aus Rumänien – das kommt mir gerade recht, nichts wie weg. Rein in den Flieger, rein in das Geschehen weit entfernt von meinem Schreibtisch und vor allem fernab von Redoxgleichungen...

Anreise

Der Geruch von abgestandenem Zigarettenrauch in dem Taxi, welches mich vom Flughafen abholt, beißt in meiner Nase. Die Fahrt nach Slatina, wo wir die nächsten 12 Tage wohnen werden dauert ca. drei Stunden und zeigt mir ein Bild von Rumänien, welches ich aus Ninas unzähligen Berichten schon vor meinem inneren Auge hatte, mich aber dennoch zutiefst schockiert.
Auf den Feldern sieht man große Hunde die in Rudeln ihr Revier ablaufen, an den Rastplätzen liegen sie direkt am Straßenrand, an den Tankstellen tummeln sich dutzende Katzen um die Mülltonnen und in der Stadt liegt unter nahezu jeder Parkbank ein Vierbeiner. Wohin man auch blickt, überall sieht man Hunde oder Katzen. Sie sind präsent, gehören zum Stadtbild.
Angekommen in Slatina lerne ich Ninas Rudel kennen. Ein Haufen quirliger Welpen begrüßt mich am Gartenzaun gefolgt von einem riesigen Dreibeiner - Fuchur, den ich von der Vermittlungsseite erkenne. Mein Herz macht einen Satz wie jedes Mal, wenn ich glückliche Tiere beim Spielen und Toben beobachte - wie jedes Mal, wenn ich weiß, dass für diese Tiere ganz bald schon ein neues Leben in Deutschland beginnen darf - wie jedes Mal in der Gewissheit, dass zumindest diesen wenigen Welpen das Schicksal auf der Straße erspart bleibt. Ich weiß, hier bin ich richtig.
Die Nacht ist kurz und dank dickem Pulli und einer zusätzlichen Wolldecke auch recht erholsam. Es herrschen eisige Temperaturen Ende Oktober in Rumänien. Der Morgen beginnt (wie soll es auch anders sein) mit der Versorgung der Tiere vor Ort. Füttern, Impfen, Verbandswechsel, schnell Frühstücken, zwischendurch das Katzenklo säubern, Mittagessen vorbereiten, Hundeboxen zusammenbauen, das Auto einladen und los geht es. Von Slatina fahren wir etwa 40 min nach Bals in ein Tierheim, in dem unsere Kastrationsaktion stattfindet. Ich schaue aus dem Fenster, beobachte die Landschaft, Menschen, die sich in den frühen Morgenstunden schon in der Stadt tummeln, beobachte die Häuser und natürlich die Hunde. Nina erzählt mir, dass sie einige von ihnen schon seit Jahren kennt. Sie kann mir zu nahezu jedem Hund eine Geschichte erzählen, weiß genau, welche kastriert sind und welche nicht und erkennt auch direkt, dass in dem Rudel schwarzer Rüden heute einer mehr dabei ist als sonst. Je weiter wir fahren, desto ländlicher wird die Gegend. Wagen, gezogen von dürren, klapprigen Pferden - teils mit tiefen, blutigen Wunden auf dem Rücken - kommen uns entgegen. Die Straßen sind längst einem von Schlaglöchern übersäten Feldweg gewichen. Ich sehe einzelne Häuser, klein und schief, die mehr Unterschlupf als „Haus“ sind. Alte Holzbretter auf lehmigem Boden mit einem Blechdach und einer Feuerstelle, umzäunt von einem provisorischen Holzzaun, der bei jeglicher Berührung einzustürzen droht. Ich sehe Kinder, die innerhalb dieses Zaunes spielen – barfuß und in T-Shirts. Zur Erinnerung: Ich habe diese Nacht mit zwei Decken geschlafen, trage feste Schuhe mit Wollsocken und durfte heute Morgen eine warme Dusche genießen. Es ist Ende Oktober und es herrschen eisige Temperaturen...

Bals - im Tierheim

Im Tierheim angekommen beginnen wir sofort mit der Arbeit. Die Arbeitsabläufe sind dieselben wie in Griechenland, so komme ich schnell wieder in eine Routine. Im Vorfeld hatte ich mir Sorgen gemacht, dass ich erst einmal alles aufhalten werde. Immerhin ist es nun über ein Jahr her, dass ich zuletzt einen Venenkatheter geschoben habe. Als hätte mein Körper die Handgriffe fest gespeichert, funktioniert aber alles auf Anhieb. Wie ein Fisch, der ins Wasser gehalten wird und sofort beginnt zu schwimmen. Ich tauche ab, genieße die Arbeit, freue mich nach so langer Zeit wieder praktisch zu arbeiten, zu helfen und zu wissen, dass das Leben unserer Patienten durch unsere Arbeit ein kleines bisschen besser werden wird. Dennoch bin ich froh, dass Gabriel (unser neuer Assistent) an meiner Seite ist. So habe ich auch hin und wieder Zeit, um Nina beim Operieren zu beobachten, jeden Handgriff zu speichern, sie mit Fragen zu bombardieren (Sorry Nina dafür ;-) ) und das ein oder andere Gelernte aus der Uni anzuwenden. Nur Redoxgleichungen sehe ich hier keine...
Zwischendurch nutze ich die Zeit, um den kleinen OP-Raum kurz zu verlassen und mir das Gelände des Tierheims anzuschauen. Es besteht aus einem kleinen Häuschen in dem wir arbeiten und zwei großen Zwingerkomplexen, in denen die Hunde untergebracht sind.
Langsam laufe ich durch den langen Mittelgang des ersten Komplexes und schaue mich um. Die Hundezwinger sind rechts und links aufgereiht, in der Mitte eine große Abflussrinne. Überdacht ist das Gebilde nur teilweise, wodurch ein eisiger Zug entsteht. Entweder ist das wirklich so oder ich bilde mir die Kälte beim Anblick der vielen traurigen Augen nur ein. Die Zwinger haben einen Betonboden und sind ausgestattet mit einer Hundehütte und einem Plastikkörbchen. Ich spüre nasses Metall in meinen Händen, als ich eine Zwingertüre nach der anderen öffne, um den Insassen (die es zulassen) ein paar Streicheleinheiten zu schenken und mitgebrachte Decken in den Körbchen zu verteilen.
Mir fällt ein schwarzer großer Hund auf, der mich abgemagert und nur noch mit einem Auge durch das Gitter hindurch anblickt. Ich verstehe seine stille Bitte, geselle mich zu ihm und schenke ihm etwas Zuneigung, die er in vollen Zügen genießt. Er besteht nur aus Haut und Knochen, sein generelles Erscheinungsbild ist sehr heruntergekommen. Er ist alt. Was er wohl schon alles erlebt hat? Ich frage mich, warum er so abgemagert ist. Als wir ihn später zur Kastration in Narkose legen, sehen wir, dass seine Zähne mittlerweile so schlecht sind, dass er das Trockenfutter, welches verfüttert wird, gar nicht richtig kauen kann…
Zurück in den OP. Arbeit lenkt ab und gibt zumindest kurzzeitig das Gefühl etwas gegen die aussichtslos erscheinende Situation dieser Tiere tun zu können. Hier in Rumänien kastrieren wir hauptsächlich Besitzertiere oder Tiere aus dem Tierheim, denn es herrscht eine generelle Kastrationspflicht. Das Gesetz schreibt zusätzlich vor, dass eingefangene Straßentiere nicht wieder auf die Straße entlassen werden dürfen. Sie kommen in ein öffentliches Tierheim wie dieses. Ein geringer (sehr geringer) Teil wird adoptiert oder es meldet sich der verzweifelte Besitzer, dessen Hund entlaufen ist. Der Großteil aber verweilt in diesem Tierheim. Eingesperrt, dafür dass man nicht gewollt ist, eingesperrt weil es keinen Platz auf dieser oberflächlichen Welt für ungewolltes Leben gibt, eingesperrt weil Menschen immer noch lieber zu einem Züchter rennen, statt sich dem Leben anzunehmen welches bereits existiert und für das es keine Hoffnung auf ein Zuhause außerhalb dieser Betonmauern zu geben scheint.

Schicksalshafte Begegnung

An einem Samstag müssen wir den Kastrationstag frühzeitig abbrechen. Nina und ich hatten wohl etwas Falsches gegessen. Trotz unserer Bemühungen die Arbeit dennoch fortzufahren müssen wir akzeptieren, dass dies nicht möglich ist. Wir sind keine Maschinen und wenn der Körper eindeutig signalisiert, dass keine Kraft zum Weitermachen vorhanden ist, müssen wir, wohl oder übel (im wahrsten Sinne des Wortes...) kapitulieren. Es ist eine Seltenheit, dass wir vor Sonnenuntergang den Heimweg antreten. Doch an diesem Tag hat es so sein sollen. Nina zeigt mir schon die ganze Woche über Plätze am Straßenrand, an denen immer wieder Hunde ausgesetzt werden. Als wäre es Schicksal gewesen, entdecken wir genau an diesem Tag einen kleinen, dunklen Fleck im Feld liegen (siehe Titelseite des Heftes). Hätten wir wieder bis spät abends gearbeitet, wäre uns das braune Etwas am Straßenrand aufgrund der Dunkelheit wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Ich habe schon viele dünne, unterernährte Tiere gesehen. Ein Bild das einem im Tierschutz nicht erspart bleibt. Jedes Mal wenn ich denke, ein Tier kann nicht noch schlimmer aussehen, werde ich vom Gegenteil überzeugt. Dieser kleine, braune Fleck ist ein Hund, der gar nicht so klein, aber dafür stark abgemagert ist. Schwach liegt er dort im Feld, blickt uns skeptisch an. Mit einem Mal gerät all die Übelkeit und das Unbehagen in den Hintergrund. Er lässt sich anfassen, streicheln und füttern – er ist freundlich. Gabriel legt ihm eine Leine um und gemeinsam befördern wir ihn in eine Transportbox. Es steht unausgesprochen im Raum: Eine weitere Seele, der man sich hier am Straßenrand entledigt hat. Wir bringen ihn zu einem befreundeten Tierschützer, der ihn aufpäppelt und vielleicht, wenn er wieder fit und gesund ist, kann er sich auf die Suche nach einem Zuhause machen, welches ihn sicher nicht am Straßenrand aussetzen wird.
Am nächsten Tag geht es uns zum Glück schon viel besser. Es ist unser freier Tag, aber jeder der den Tierärztepool eine Weile verfolgt, weiß: Im Grunde gibt es keine freien Tage. Wir fahren in die Stadt, sind dort verabredet mit einem Ehepaar, welches ca. 20 Katzen in seiner Wohnung hält. In Ländern, in denen die Straßentierproblematik so groß ist, gibt es auch immer wieder Menschen die Gutes tun wollen, sie nehmen Tiere auf, um ihnen zu helfen. Problematisch wird dies allerdings, wenn die Tierliebe zu einem krankhaften Sammeln wird. Die Anzahl der Tiere um die man sich wirklich noch gewissenhaft kümmern und auf deren Bedürfnisse man eingehen kann, wird nicht mehr erkannt. Dass es den Tieren in diesen Situationen in keinem Fall besser geht als auf der Straße, ist für Betroffene schwer zu verstehen. Oftmals herrschen schlimme hygienische Bedingungen. Viele Tiere sind krank, stecken sich untereinander an und es kommt zu Kämpfen um das (oftmals zu wenige) Futter. Man kann Animal-Hoardern die Tiere auch nicht einfach entziehen, denn dann beginnt das Sammeln von vorne – und wenn auf der Straße an jeder Ecke irgendwelche Tiere zu finden sind, ist das ein leichtes Spiel. Darunter leiden müssen wie so oft die Tiere. Zusätzlich zur Hilfe durch Kastrationen versuchen wir auch den Menschen vor Augen zu halten, dass eine solche Tierhaltung zu großen Problemen bei Mensch und Tier führen kann.
Die Stadt besteht aus einer riesigen Ansammlung von Betonbauten, heruntergekommene Hochhäusern voll mit winzigen Wohnungen. Eine bedrückende Stimmung macht sich in mir breit während wir, vollbeladen mit Katzenfutter, durch die Straßen laufen. Wohin das Auge blickt ist alles grau. Selbst auf dem Berliner Wohnungsmarkt (und ich weiß wovon ich spreche) würde man diese Wohnungen in Deutschland nicht vermietet bekommen. Wir leben in einer so privilegierten Gesellschaft und wissen doch oft gar nicht zu schätzen, was es bedeutet eine Heizung oder fließend warmes Wasser zu haben. Wenn es den Menschen in Rumänien schon so schlecht geht, wie soll es da denn den Tieren gehen.

Am Staudamm

Gegen Abend fahren Nina und ich raus aus der Stadt. Etwas abgelegen befindet sich ein Staudamm. Nina erklärt mir, dass hier wohl besonders häufig Hunde ausgesetzt werden. In der Gegend rund um das Gelände sind einige illegale Müllplätze, an denen sich die Straßentiere ernähren können. Wir müssen keine fünf Meter laufen und entdecken schon die ersten zwei Hunde, die uns schwanzwedelnd entgegenkommen. Die eine, etwas größere, Hündin kennt Nina bereits. Mehrere Male hatte sie versucht sie einzufangen - leider ohne Erfolg. Begleitet wird sie von einem Welpen. „Der ist neu“, sagt Nina. Ausgestattet mit Hundefutter setzen wir unseren Weg fort durch die Büsche, am Ufer entlang. Stets gefolgt von der Hündin und ihrer kleinen Begleitung. An jeder Ecke sehen wir erneut hungrige Augen, sehnsüchtig wartend auf ein bisschen Trockenfutter welches wir ihnen hinschmeißen.
„Da ist schon wieder einer“, „Schau mal, der ist auch neu“, „Hinter dir sind nochmal zwei Welpen“. Ich komme nicht mehr hinterher. Von überall kommen nun weitere Hunde angekrochen immer und immer mehr. In Mitten der Hundebande sitze ich nun wie in Trance und versuche an alle gleichviel Futter zu verteilen, bekomme nur am Rand mit, wie Nina immer weiter aufzählt welche Hunde hier bei ihrem letzten Besuch (vor ein paar Tagen) noch nicht da gewesen sind. Es ist wie ein Rauschen. Ich bin sprachlos. Die meisten sind sehr scheu, lassen sich nicht anfassen. Nur so haben sie es überhaupt erst geschafft auf der Straße das Welpenalter zu überleben. Die Schlauen und Vorsichtigen kommen durch, eben diejenigen die besonders schwer zu fangen sind. Das hat sie das Leben gelehrt.
Wir verfolgen eine Hündin mit auffallend großem Gesäuge. Tatsächlich führt sie uns direkt zu ihrem Nachwuchs. In einer Abwasserrinne am Rande des Weges hatte sie ihren Wurf zur Welt gebracht. Mutig verteidigt sie ihre Kinder. Für uns steht fest: Hier können sie nicht bleiben. Spätestens beim nächsten Regenschauer würde die Rinne voll laufen und die Welpen sind nicht groß genug um eigenständig aus ihr herauszuklettern, ein Todesurteil. Es dauert einige Minuten, die Mutter ausreichend zu sedieren, um sie und die Welpen sicher und ohne Verletzungen transportieren zu können.
Nina und ich sitzen am Wegesrand mit Aussicht auf den Damm. Neben uns die quietschenden Welpen. „Manchmal frage ich mich, ob das alles überhaupt einen Sinn hat, ob es jemals ein Ende nehmen wird“ sagt Nina leise und ich spüre wie viel Schmerz und Wehmut in ihrer Stimme liegt. Ich verstehe was sie meint. Wir arbeiten den ganzen Tag, kastrieren was das Zeug hält und dann kommt man an diesen Ort und wird überrumpelt von der Anzahl an Tieren die hier leben. Es kommt einem vor, als wäre all das umsonst, wenn sich die Population hier immer und immer weiter vermehrt. Ein Fass ohne Boden.
In mir kämpfen die Gefühle. Ich bin wütend, traurig, bedrückt, gleichzeitig fasziniert von der Aussicht auf den Damm und der untergehenden Sonne die den Himmel in zarte Pastelltöne einfärbt. All das macht keinen Sinn. Nina nimmt einen Welpen aus der Grube hält ihn einfach in der Hand und betrachtet ihn. Eine kleine handvoll Leben, das keine Ahnung hat in welch grausame Welt es hineingeboren wurde, wie aussichtlos seine Situation zu sein scheint. Das hier nicht mehr wert ist als die leere Plastikflasche die unachtsam neben uns, einfach auf den Boden geschmissen, weggeschmissen, wurde. „Ich habe letztens eine Nachricht von einer Familie erhalten, an die habe ich genau so einen Welpen vermittelt, den habe ich auch am Straßenrand im Müll gefunden. Sie haben sich bedankt für ihr neues Familienmitglied“. Auf den Müll geschmissen in Rumänien und ein Familienmitglied in Deutschland. Wie paradox kann diese Gesellschaft sein? Wer oder was entscheidet, ob ein Lebewesen Abfall oder geliebtes Familienmitglied wird? Der Geburtsort, Zufall, Glück? Nina drückt mir den Welpen in die Hand um aufzustehen und die Transportbox aus dem Auto zu holen. Ich bleibe sitzen um aufzupassen, dass uns die Mutter nicht wieder entwischt. In meinem Kopf rasen die Gedanken. Diese Welpen hier werden die Chance haben einmal ein Familienmitglied zu werden, wie vielen anderen wird dieses Glück niemals wiederfahren, wie viele andere müssen qualvoll auf der Straße oder in völlig überfüllten Tierheimen sterben? Eins steht fest. Das wird der letzte Wurf gewesen sein, den diese Hündin hatte, sofort morgen früh wird sie von uns kastriert werden. Sie ist mittlerweile ausreichend sediert, um sie gemeinsam mit ihren Welpen (es sind sechs an der Zahl) in die Box zu manövrieren.
Nina und ich tragen die Box gemeinsam, sie ist furchtbar schwer und der Weg zum Auto recht weit. Wir müssen mehrmals anhalten und unsere Hände ausschütteln. Aber während wir dort laufen, gemeinsam diese Box tragend, der Abenddämmerung entgegen, beantworten sich alle meine Fragen und Zweifel von alleine:
„Wozu soll das Ganze gut sein, macht das alles überhaupt einen Unterschied?“ - Für diese Hunde hier wird es einen Unterschied machen und das reicht!
Wärme breitet sich in meinem Körper aus und ich kann sagen, dass ich genau in diesem Moment, obwohl sich das Plastik der Box schmerzhaft unter meine Fingernägel drückt und ich meinen linken Daumen kaum noch spüren kann, genau in diesem Moment empfinde ich pure Freude.
Das ist es, was ich machen möchte – genau das.

Freundschaft

Gesagt getan. In den nächsten Tagen stürzen wir uns doppelt motiviert in die Arbeit. Wir arbeiten im Akkord. Immer wieder gehe ich in das Tierheim um neue Hunde zur Kastration zu sedieren. Als Elena, unsere rumänische Koordinatorin und Helferin, auf den Zwinger ganz hinten in der Ecke deutet, als ich frage welcher Hund als nächstes an der Reihe ist, werde ich stutzig. Dort in dem Zwinger soll ein Hund sein? Ich dachte die ganze Zeit über er sei leer, doch als ich hineinschaue entdecke ich eine kleine braune Hündin in die hinterste Ecke ihrer Hundehütte gedrängt. Sie liegt mit dem Rücken zu mir, beachtet mich nicht einmal. Das ist sehr ungewöhnlich. Die meisten Hunde hier stehen schwanzwedelnd und bellend am Eingang, können es kaum abwarten, Aufmerksamkeit zu bekommen. Diese Hündin ist anders.
Langsam bewege ich mich in den Zwinger hinein, beginne ruhig mit ihr zu sprechen. Da hebt sich auf einmal das kleine Köpfchen und schaut mich ungläubig an. Als könne sie nicht glauben, dass genau sie gemeint ist, setzt sie vorsichtig einen Fuß aus der Hundehütte heraus. Ich lade sie ein, zu mir zu kommen, und als wäre plötzlich ein Schalter umgelegt stürzt dieses Hündchen überglücklich in meine Arme, schleckt mich ab, drückt sich an mich. Ich streichele sie etwas überrumpelt, blicke zu Elena, die mich ebenfalls verwirrt anschaut. Mit dieser Reaktion haben wir wohl beide nicht gerechnet. Dicht an mich gedrückt trage ich die Kleine in unseren OP. Sie ist so fröhlich und aufgeweckt, strahlt uns förmlich an. Ihr Körperbau ist total unproportioniert, sie scheint auch schon älter zu sein, obwohl sie so quirlig wie ein junger Welpe wirkt. „An diesem Hund passt irgendwie gar nichts zusammen“ lacht Nina. „Das stimmt“, antworte ich, „und genau das mag ich an ihr“. Nach der Kastration kippt die Stimmung plötzlich. Genau in dem Moment, in dem ich realisiere, dass ich die kleine Hündin wieder zurückbringen muss. In eine pinke Decke eingewickelt trage ich sie schweren Schrittes durch den Gang zu ihrem Zwinger. Ich halte sie fest in meinem Arm. So oft bin ich durch dieses Tierheim gelaufen, habe so oft Hunde raus und rein getragen und so oft habe ich gar nicht richtig darüber nachgedacht. Urplötzlich ist mir eiskalt und ich kämpfe mit den Tränen. All diese Hunde haben die Hoffnung, dass ein Mensch kommt, ihnen Liebe und Aufmerksamkeit schenkt, sie da rausholt. Diese kleine braune Hündin hatte diese Hoffnung. Und nun bringe ich sie wieder zurück. Es fühlt sich an, als hätte ich sie enttäuscht, als hätte ich alle Hunde in diesem Tierheim enttäuscht, weil ich nichts an ihrer Situation ändern kann. Ich lege den kleinen, braunen Hundekörper behutsam in das Körbchen und empfinde unbeschreiblichen Schmerz. Dieser Moment hat sich tief in mein Herz gebrannt. Schlimmer als jede Chemie Prüfung es je sein kann. Die anderen Hunde im Tierheim sind mucksmäuschen still. Um mich herum wird alles trüb. Weinend verlasse ich die Zwinger. Nicht nachdenken, nicht nachdenken...

Der Preis der Freiheit

Neben den Tieren aus dem Tierheim und einigen gut gepflegten Besitzertieren werden uns auch immer wieder Tiere in schlechtem Zustand gebracht. Ob Katzenbabys mit eitrigen Wunden am Bein, total verfilzte Pudelmischlinge oder verflohte, abgemagerte Tiere, es ist alles dabei. An einem Tag werden uns Hunde aus einem ganz bestimmten Dorf gebracht, allesamt in eher schlechtem Zustand. Die Tierschützerin, die uns diese Hunde gebracht hatte, bietet uns an zu zeigen, woher diese Hunde kommen. Sie führt uns in ein kleines Dorf, außerhalb von Bals, wo etwas abgelegen eine Fliesen-Verkaufshalle liegt. Schon von weiten hören wir das Hundegebell. Auf dem ganzen Gelände verteilt finden wir angekettete Hunde vor. Die Besitzerin zeigt uns stolz ihre Schützlinge.
Ich bin schockiert wie viele Hunde hier tatsächlich leben. Die Frau führt uns hinter das Gebäude. Ein ca. 1m breiter Spalt zwischen Rückwand und Zaun wurde genutzt um aus provisorischen Gitterplatten mehrere Zwinger hintereinander zu bauen. Ich kann kaum erkennen wie viele es genau sind. Überall liegt Dreck und in den Wassereimern bilden sich bereits Algen. Wie angewurzelt stehe ich da. Die Hündin vor mir bellt mich ängstlich an, sie signalisiert mir sehr deutlich, dass ich ihr nicht zu nahe kommen soll. Sie wird hier hinten festgehalten, so wie alle anderen Hunde. Ob an der Kette oder in diesen kleinen „Zwingern“. Die Frau möchte den Straßenhunden ein besseres Leben ermöglichen, will ihnen helfen, sie in Sicherheit bringen. Dass diese vermeidliche Sicherheit, für die Tiere ein Leben an der Kette bedeutet, sie nicht rennen oder spielen können und an diesem Ort genauso gefangen sind wie in einem öffentlichen Tierheim, ist für sie unverständlich. Den Tieren geht es dort nicht gut und sicher auch nicht besser als auf der Straße – der Preis, den sie zahlen, ist die Freiheit. Als wir den Rücktritt antreten beginnt es in Strömen zu regnen. Ein Teil der Hunde dort hatten nicht einmal Zugang zu einer Hundehütte, die sie vor dem Wetter schützen kann. Immerhin möchte die Frau in Zukunft mit uns zusammen arbeiten und ihre Tiere alle kastrieren lassen.

Abschied

Mein letzter Tag bricht an, heute Abend werde ich bereits wieder in Berlin sein. Einen letzten Wunsch habe ich aber: Ich möchte noch einmal zum Damm. Nina grinst „Dich hat das Damm-Fieber erwischt“ sagt sie und hat so recht. Ich kann nicht genau erklären was es ist, was mich so stark an diesen Ort zieht, eigentlich ist die Stimmung dort ja eher bedrückend. Wir fahren bei Sonnenaufgang los. Uns kommt dieselbe mittelgroße Hündin entgegen die wir auch schon vor ein paar Tagen gesehen hatten. Diesmal begleitet von einem anderen jungen Welpen. „Die ist neu“ denke ich, blicke zu Nina und weiß, dass sie genau das Gleiche im Kopf hat.
Gemeinsam setzen wir uns ans Wasser und essen unser Frühstück umgeben von ein paar spielenden Straßenhunden, denen wir natürlich auch etwas zu Essen mitgebracht haben. Der morgendliche Nebel legt sich malerisch auf das Wasser und das umgebende Grün. Wir genießen eine wunderschöne Aussicht. Dreht man sich allerdings in die andere Richtung sieht man Berge von Müll, Abfall und heimatlose Tiere die versuchen, darin etwas Essbares zu finden. Wie kann ein Ort so schön und hässlich zugleich sein?
Wenn man mich fragen würde, was ich aus diesem Einsatz in Rumänien mitnehme, dann wäre meine Antwort wohl Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit, weil dort Mensch und Tier täglich um das pure Überleben kämpfen müssen und man sich in Deutschland im Gegensatz dazu darüber streitet, welches premium Katzenfutter wohl das Beste ist, man Hunderassen züchtet die offensichtlich (!) unter ihrem vermeintlichen Schönheitsideal leiden. Ich mir auch als Studentin ohne großes Einkommen keine Sorgen machen muss, kein warmes Wasser mehr zu haben oder kein Essen mehr zu bekommen und mein größtes Luxusproblem stattdessen einfach nur Redoxreaktionen sind... Eins steht fest: Ich werde wieder kommen, so schnell ich kann.
Eure Miriam

Helfen

Der Förderverein Arche Noah Kreta e.V. ist ein tiermedizinisch orientierter Tierschutzverein, dessen Schwerpunkt die Kastration von Straßentieren ist. Das Team besteht aus mehreren Tierärztinnen und Helferinnen, die international Kastrationsaktionen durchführen.
Jeder bekommt eine Chance auf ein besseres Leben! All das wird nur möglich durch Ihre Spende!

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In vielen unserer Projekte werden regelmässig Helfer benötigt. Manchmal brauchen wir tiermedizinisch vorgebildete Unterstützung. Manchmal einfach Menschen, die die Tiere vor und nach der OP betreuen, Boxen waschen und anpacken, wo Hilfe benötigt wird. Wenn Ihr der Meinung seid, dass wir Euch kennenlernen sollten, sendet uns eine Email an   jobs@tieraerztepool.de.
Oft aber kann jeder einfach helfen - so zum Beispiel bei den Kastrationsprojekten auf Rhodos oder in Epanomi. Hier werden Leute benötigt, die Katzen vom und zum Fangort fahren, Fallen und Boxen reinigen usw.

In den Helfergruppen auf Facebook könnt Ihr Euch vernetzen:

  Flying Cats e.V. - Kastrationsprojekt Rhodos - Helfer

  ACE - Tiere in Not (Epanomi)

TierInsel Umut Evi e.V.: Kontaktaufnahme über tierinsel-tuerkei-vorstand@t-online.de