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Die Geschichte einer Piratin

Ein Bericht von Michelle Hoffmann, Tiermedizinstudentin

Ich war aufgeregt, als ich mich auf den Weg machte, um dich abzuholen. Ich wusste, dass du noch nie in einem Auto gefahren bist, noch nie eine Wohnung gesehen hast, noch nie an der Leine spazieren gegangen bist, überhaupt jemals spazieren warst, in einem warmen Körbchen geschlafen, ein Bad bekommen hast, ...  
Die Liste an Dingen, die du noch nie erlebt hast, ist lang. Und dabei bist du bald zwei Jahre alt. Man entledigte sich deiner, als du fünf Wochen alt warst. Plötzlich stand der Karton während einer unserer Kastrationsaktionen vor dem Tierheim im Gebüsch.

Du warst die Kleinste im Wurf und es war klar: Wenn du überlebst, wird dich das gleiche Schicksal ereilen, das die meisten ereilt.
Endstation Tierheim. Die Flut an Welpen war, wie jedes Frühjahr, endlos und so wollte dich niemand. Du zogst in einen Zwinger ein, der ab jetzt dein Zuhause sein sollte.

Im Herbst, als wir zur nächsten Kastrationsaktion kamen, begrüßten uns die vielen Hunde. Auch du warst dabei. Mittlerweile warst du aber kein winziger Welpe mehr, sondern ein echter Junghund. Du warst niedlich und aufgeschlossen, so wie es sich für einen Junghund eben gehört, doch immer noch wollte dich keiner haben.

Um das Schlimmste zu verhindern, wurdest du von uns kastriert, denn Welpen gibt es hier wahrlich genug, da sollte es nicht auch noch in Tierheimen zu Vermehrungen kommen. Während du auf meinem Arm friedlich der Narkose nachgabst, überlegte ich, wie ich dir die Chance geben könnte, mit mir nach Deutschland mitzukommen. 

Du hattest es mir angetan und ich musste viel an dich denken. Die Nacht schlief ich kaum. Zu manchen Hunden hat man einfach eine emotionale Verbindung, die einen nicht mehr loslässt. Du warst jung und unbedarft und das Schicksal sollte es mit dir nicht gut meinen. Nach ein paar Wochen war unsere Aktion beendet und ich musste abreisen. Ohne dich, denn so sehr ich auch wollte, ich konnte dich nicht mitnehmen. Ich studiere und muss den ganzen Tag in die Uni und auch eine Pflegestelle fand ich keine. Es brach mir das Herz.

Ein Jahr später, es ist wieder Herbst und wir starten in eine weitere Kastrationsaktion, bei der ich dabei bin. Ich gehe an den Zäunen entlang und streichle dabei hier und dort die Hunde. Auch du bist dabei, immer noch warst du eine, die niemand wollte, eine ohne Chance, eine von Vielen. Mittlerweile war aus dem aufgeweckten Junghund ein ängstlicher und unsicherer erwachsener Hund geworden. Auch diese Herbstaktion endete und es ging für mich zurück nach Deutschland.
Auch dieses Mal bliebst du zurück. Es fiel mir unglaublich schwer in den Flieger zu steigen. Meine ganze freie Zeit verbrachte ich in Rumänien und die Uni startete wieder, ich konnte dich nicht mitnehmen. Schon wieder nicht…
Die Monate liefen dahin und es war zum zweiten Mal Januar geworden. Ich hatte neun Wochen vor mir, in denen ich zu Hause sitzen würde und für meine unzähligen Prüfungen lernen müsste. Zeit für einen Einsatz in Rumänien blieb nicht. Ich entschied, dass, wenn ich schon nicht vor Ort helfen kann, ich wenigstens eine einzelne Seele retten wollte. Wer das sein sollte, musste nicht lange überlegt werden. Nach fast zwei Jahren ausschließlich im selben Zwinger, auf denselben paar Quadratmetern, mit denselben zwei Hunden und immer den gleichen, wenigen Arbeitern. Deine Chance sollte kommen.
Auf dem Weg, um dich vom Transporter aus Rumänien abzuholen, überlegte ich, wie Du Dich wohl entwickelt hast, wie schlimm die Angst vor dem ganzen Neuen letztlich sein wird. Denn auch, wenn du nie schlechte Erfahrungen gesammelt hattest, hattest du in vielen Dingen einfach keine gesammelt. Ich taufte dich Valea.

Bewaffnet mit Angstgeschirr und Leine durftest du aus der Transportbox aussteigen und grünen Rasen unter den Füßen spüren.    
Dir war das Ganze überhaupt nicht geheuer, nach langen Stunden im Transporter, und nun an einer Leine zu hängen, war komisch.  
Und draußen war alles unheimlich, weil neu. Komplett neu! Bei jedem Geräusch zucktest du zusammen.
Die erste Nacht bekamen wir beide kaum ein Auge zu.

Du gruseltest dich so furchtbar in meiner Wohnung. Du hattest dich im Spiegel entdeckt und so sehr erschrocken, dass du bellend und knurrend den Raum verließest. Also hing ich den Spiegel mit einer Decke ab. Dann sahst du dein Spiegelbild im Herd, das Spiel startete von Neuem. 

Anfassen konnte ich dich am Anfang nicht. Ich lernte für die Prüfungen also auf dem Boden sitzend, ohne mich zu viel zu bewegen und mit ein paar Leckerlis um mich herum drapiert, aber du trautest dich nicht, sie zu holen.
Die ersten Tage waren ein wahrer Spießrutenlauf. Draußen machte dir jeder Fußgänger, jeder Fahrradfahrer, allgemein alles, was uns mit zwei oder vier Beinen entgegenkam, enorme Angst. Und in der Wohnung war es noch viel schlimmer. Du hattest panische Angst vor mir, vor jedem merkwürdigen Geräusch, wie dem Wecker, der Waschmaschine, vor komischen Gegenständen, ja eigentlich vor allem. 

Nach ein paar Tagen begannst du plötzlich Interesse an mir zu zeigen. Du hattest bemerkt, dass ich immer entweder Futter hatte oder wir spazieren gingen. Sofern wir in Gebieten mit wenig Menschen unterwegs waren, war alles gut und du hattest Gefallen an Spaziergängen gefunden.
Eine Woche später stupste mich deine Nase an. Du berührtest mich zum ersten Mal.

Immer mehr wuchsen wir zusammen und inzwischen hatte ich dein volles Vertrauen. Du bist so unendlich anhänglich und orientierst dich so stark an mir, dass ich dich ohne Probleme ableinen kann. Ist dir etwas gruselig, kommst du sofort her und auch wenn ich dich rufe, bist du mit dem ersten Pfiff zur Stelle. 

Die weiteren Wochen übten wir, dass auch fremde Menschen kein Problem sind. Der Abstand, den du einhieltest, wenn uns andere Menschen entgegenkamen, wurde täglich kleiner und bald konntest du an ihnen ganz normal vorbeigehen. Auch alltägliche Dinge, wie das Autofahren, wurden zur Routine.

Da ich aber nur deine Pflegestelle sein konnte, denn früher oder später ging die Uni wieder los, machten wir uns gemeinsam auf die Suche nach einem eigenen „Für-Immer-Zuhause“ für dich. Es ist nicht einfach, Menschen zu finden, die keinen perfekten Hund suchen und bereit sind, Arbeit in das neue Familienmitglied zu investieren. Doch es dauerte gar nicht so lange, da waren sie da. Sie standen vor der Haustür, waren fünf Stunden gefahren, um dich kennenzulernen, obwohl sie wussten, dass sie dich vermutlich nicht streicheln konnten.

Ich spürte bereits beim ersten Telefonat, dass das dein Platz sein könnte, der genau für dich zugeschnitten war und auch du spürtest sofort eine Verbindung beim ersten Kennenlernen. So durften sie Dich wider Erwarten, nach ein wenig Bestechung sogar streicheln. 

Am Ende des Tages war klar, Du hast ab jetzt dein Zuhause für immer gefunden und durftest direkt mit deiner neuen Familie mitfahren. Es war ein unglaubliches Gefühl, dich mit deiner neuen Familie ziehen zu lassen! Ich war so stolz auf dich!

Und so bleibt mir nur zu sagen:
Valea, es tut mir leid, dass dir zwei wertvolle Jahre deines Lebens geraubt wurden. Es tut mir leid, dass ich dich nicht als unbedarften Welpen mitnehmen konnte. Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest, nichts kennengelernt hast und dadurch so viel Angst aufgebaut wurde. Wir mussten viel kämpfen und arbeiten, aber wir haben es gemeistert - zusammen. Danke, dass du mir dein Vertrauen geschenkt hast und so motiviert warst, um ein toller Familienhund zu werden.
Jetzt hast du deine eigene Familie, die dich liebt, so wie du bist und mit der das Leben ab jetzt nur noch Schönes für dich bereithält.

Ein halbes Jahr später bist du Expertin im Segeln und hast schon einige Länder gemeinsam mit deiner Familie bereist. Du bist überall dabei, egal ob am abgelegenen Strand oder in der Stadt. Auch beim Restaurantbesuch kannst du mittlerweile entspannt unter dem Tisch warten und lässt dir dabei sogar den Bauch vom fremden Kind des Nachbartisches streicheln.  
Es ist unfassbar, was für eine Verwandlung du gemacht hast und du bist damit nur ein Beispiel von Vielen, das zeigt, dass es sich lohnt, den ungewollten, überflüssigen Hunden eine Chance und die nötige Zeit zu schenken!

Michelle