Die warme Sonne strahlt durch das Fenster direkt in mein Gesicht. Seit Tagen wird Deutschland von einer enormen Hitzewelle geplagt. Die meisten machen das einzig Richtige und verbringen ihre freie Zeit an irgendeinem Badesee oder essen Eis. Ich nicht. Es ist, als würde ich in einer kleinen Parallelwelt leben, denn von Sonne, Sommer und Ferien bekomme ich so gut wie gar nichts mit. Meine Parallelwelt heißt mal wieder „Prüfungsphase“ und mein bester Freund ist der Schreibtisch. So geht das seit Wochen. Es sind die letzten Prüfungen vor meinem praktischen Jahr, die mich in dieser Situation fesseln, mich zwingen den ganzen Tag zu büffeln. „Nur noch 1 ½ Jahre Miriam, reiß dich zusammen“ - mein tägliches Mantra. Bald ist es geschafft.
Tagträume
Von Miriam Klann, Tiermedizinstudentin
Die warme Sonne strahlt durch das Fenster direkt in mein Gesicht. Seit Tagen wird Deutschland von einer enormen Hitzewelle geplagt. Die meisten machen das einzig Richtige und verbringen ihre freie Zeit an irgendeinem Badesee oder essen Eis. Ich nicht. Es ist, als würde ich in einer kleinen Parallelwelt leben, denn von Sonne, Sommer und Ferien bekomme ich so gut wie gar nichts mit. Meine Parallelwelt heißt mal wieder „Prüfungsphase“ und mein bester Freund ist der Schreibtisch. So geht das seit Wochen. Es sind die letzten Prüfungen vor meinem praktischen Jahr, die mich in dieser Situation fesseln, mich zwingen den ganzen Tag zu büffeln. „Nur noch 1 ½ Jahre Miriam, reiß dich zusammen“ - mein tägliches Mantra. Bald ist es geschafft.
Das aktuelle Lernskript liegt vor mir: Fleischhygiene. Warum tu‘ ich mir das noch gleich an? Ich schaue in die Sonne, schließe kurz die Augen und schweife ab…
Das weiche Licht der Sonne verändert sich. Plötzlich wird es grell und kalt, aber dennoch vertraut und irgendwie bekannt. Ich muss blinzeln und schaue mitten in eine OP-Lampe. Während ich mein Gesicht abwende, werden die übrigen Strukturen des Raumes langsam scharf. Ich befinde mich unmittelbar vor einem OP-Tisch, verdutzt reibe ich mir die Augen. Wie in Zeitlupe bewegt sich alles um mich herum, die Gestalten nehmen immer mehr Form an. Es sind drei Frauen, deren Gesichter von OP-Masken verdeckt sind. Alle sind konzentriert nach vorne gebeugt, der Fokus ist auf das gerichtet, was auf dem Tisch liegt. Eine schneeweiße Katze. Man sieht nur ihren Kopf, der Rest wird von einem sterilen Abdecktuch bedeckt.
Die Hand der einen Frau steckt bis zu den Fingerknöcheln im Körper der Katze, mit der anderen versucht sie sich dort mehr Sicht zu verschaffen. Auf der anderen Seite des Tisches, ihr gegenüber, hält eine Frau einen Nadelhalter und sterile Fäden in der Hand. Die dritte im Bunde steht am Kopf des Tieres. In regelmäßigen Abständen drückt sie einen Beatmungsbeutel, der über einen angeschlossenen Tubus die Lunge der kleinen Katze mit Luft füllt. Das Tier wird also „per Hand“ beatmet, offensichtlich kann sie das nicht alleine. „Einen sterilen Tupfer bitte, Miri.“ Ich reagiere zögerlich, aber intuitiv, indem ich der Frau neben mir den gewünschten Tupfer anreiche. Die Zeitlupe verwindet und ich realisiere, wie schnell auf einmal alles geht. „Ich versuche jetzt, das Zwerchfell zu verschließen, Melanie, hast du den Faden?“ Ich traue mich kaum zu atmen, spüre die Anspannung im Raum, es ist volle Konzentration gefragt. Nun erkenne ich erst die Gesichter. Um mich herum stehen Marga, Melanie und Valentina, drei unserer Tierärztinnen. Sie befinden sich mitten in einer Zwerchfell-Operation. Ein schwieriger, riskanter Eingriff. Es gibt hier kein Beatmungsgerät oder einen Überwachungsmonitor, was in einer deutschen Klinik Standard wäre. Die Beatmung übernimmt Valentina, ich die Narkoseüberwachung. Es ist mucksmäuschenstill, lediglich das regelmäßige Aufblähen des Beatmungsbeutels durchbricht die Ruhe. Wenn jetzt nicht alles reibungslos funktioniert, wird das Kätzchen an den Folgen des Autounfalls sterben. Geballte tierärztliche Kompetenz und jahrelange Erfahrung sammeln sich in diesem Zimmer, um diesen Tisch herum – und ich mittendrin. Gespannt beobachte ich das Geschehen, versuche alle Informationen und jeden Handgriff aufzusaugen. Gleichzeitig bin ich vollkommen als Assistenz eingebunden. Ich rücke das Licht in die gewünschte Position, gebe Narkose nach, kontrolliere die Infusion, reiche Tupfer und OP-Material an. Hier fühle ich mich wohl, hier gehöre ich hin. Ich liebe das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, helfen zu können, Leben zu retten und diese unglaubliche Konzentration im OP. Wie viel Glück dieses Kätzchen hatte, dass sie mit ihrem gerissenen Zwerchfell in die fähigen Hände dieser drei Tierärztinnen gekommen ist.
„Wir brauchen noch mehr Nudeln!“ Nudeln? Im OP? Wie? Was?
„Huhu Miriam? Ich koche Nudeln, willst du auch welche?“ Ich zucke zusammen. Meine Mitbewohnerin steht in der Tür und schaut mich erwartungsvoll an. Verschwunden sind der OP und die Katze, stattdessen sitze ich wieder Zuhause am Schreibtisch. „Ich...ähm...ja“ stammle ich. „Tagträumst du schon wieder?“ fragt sie lachend „Na, wo warst du dieses Mal?“ „Im Einsatz an der Front“ antworte ich knapp und grinse. Dass wir gerade unter minimalsten Bedingungen das Zwerchfell einer Katze operiert haben und ihr damit das Leben retteten, würde hier zu viel Erklärung erfordern.
Mit einem vollen Teller Nudeln mit Tomatensauce vor mir, versuche ich also erneut das Fleischhygieneskript zu wiederholen. Nur langsam komme ich voran. Die Sonne ist längst untergegangen und eine leichte Brise weht durchs Zimmer. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Auf einmal halte ich in meinen Händen statt Messer und Gabel, Nadelhalter und Pinzette. Erneut finde ich mich hinter einem OP-Tisch wieder, nur dass ich diesmal diejenige bin, die sterile Handschuhe trägt. Nach wie vor habe ich eine Gänsehaut. Die kühle Sommerbrise wird zu Melanies Atem, der mich im Nacken kitzelt. Sie steht direkt hinter mir. Ich spüre ihren Blick auf meinen Fingern. Geduldig führen ihre Worte meine Bewegungen. Ich bemühe mich, alles richtig zu machen. Wie leicht die Handgriffe bei den Tierärztinnen doch aussehen und wie schwer sie sind, wenn man sie selbst ausführen soll. Ich brauche gefühlt eine Ewigkeit. Wie lange wird es dauern, bis ich eines Tages mit den Profis mithalten kann? Wie lange wird es dauern, bis ich überhaupt als Tierärztin auf Einsätze gehen darf? Ich kann es kaum erwarten, es kribbelt in meinen Fingern. Ich freue mich richtig darauf, das Operieren zu lernen und in die großen Fußstapfen unserer Tierärztinnen zu treten. Nun muss ich nur noch alle Prüfungen bestehen - zum Beispiel Fleischhygiene…
Ich schrecke hoch. Ach ja Fleischhygiene, da war ja was. Ich muss gähnen. Der Blick auf die Uhr verrät mir, dass es allerhöchste Zeit ist, ins Bett zu gehen.
Am nächsten Tag komme ich gut voran. Der Lerninhalt sitzt langsam und ich bin guter Dinge.
„Zeit für eine kleine Pause“, denke ich und gehe zum Kühlschrank. Meine Mitbewohnerin hat mir noch Reste vom veganen Tiramisu übriggelassen. Mit der Nachspeise in der Hand lasse ich mich auf dem Balkon nieder. Tiramisu…schon kommen Erinnerungen in mir hoch.
Eine große gestromte Hündin taucht in meinen Gedanken auf, kraftlos liegt sie neben mir auf dem Kiesboden. Ich sitze ebenfalls im Dreck. Vor mir die Zwingerlandschaft eines Tierheims irgendwo in Südeuropa. Wir haben einen langen Kastrationstag hinter uns. Der Abend dämmert bereits. Langsam streiche ich ihr über das wuschelige Fell. Sie streckt und schmiegt sich an mich. Ich wische mir verstohlen die Träne von der Wange, die ich nicht zurückhalten kann. Das Elend und das Leid der eingesperrten Hunde überwältigt mich immer wieder. Das Gebell der anderen Hunde, die am Gitter hochspringen, dröhnt in meinen Ohren. Tiramisu, so habe ich die Hündin heimlich getauft, war Melanie direkt aufgefallen. Sie lag da einfach in einem der Zwinger zwischen zwei Wirbelwinden, die wild um sie herum und über sie drüber rannten. Sie lag da, halb tot, halb lebendig. Ihr langes Fell verdeckte, wie dünn sie war. Melanie wollte sie untersuchen und so landete sie in unserem OP. Die zwei roten Streifen auf dem Blutschnelltest bestätigen, was wir schon vermutet hatten: Leishmaniose. Unser alltäglicher Feind. Schlechte Karten für sie. Tiramisu war so aufgeschlossen, lustig und freundlich, dass Melanie und ich sie direkt in unser Herz schlossen. Aber wohin mit so einem großen, Leishmaniose positiven Hund? Die Vermittlungen laufen derzeit schleppend und das NLR platzt schon aus allen Nähten. Die Machtlosigkeit an der Situation eines Tieres schlicht nichts ändern zu können, ist so schmerzhaft, so frustrierend, so traurig. Sie blieb bei uns im OP, bis wir den letzten Patienten operiert hatten, wahrscheinlich, weil wir vor uns herschieben wollten, sie wieder zurück in den Zwinger zu bringen. Am Abend erschien eine freundliche Frau im Tierheim, sie wollte sich bedanken und ihre kastrierten Streunerkatzen abholen. Melanie begann mit ihr zu sprechen, während ich mich zu Tiramisu auf den Boden setzte.
Mittlerweile ist es fast dunkel. Ich nehme wahr, dass sich Melanie und die freundliche Frau immer noch über Tiramisu unterhalten. Da kommt Melanie auf uns zu und kniet sich neben mich. Langsam streichelt sie der süßen Hündin über den Kopf. „Sie kommt hier raus.“ meint sie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Die freundliche Frau kennt eine Art Gnadenhof, nicht weit von hier, da gibt es schon ein paar Leishmaniose-Hunde. Sie darf in Zukunft dort wohnen.“ Wieder ist da eine Träne auf meiner Wange, diesmal vor Erleichterung...
Na toll, jetzt weine ich hier, während ich das leckere Tiramisu meiner Mitbewohnerin mampfe. Manche Schicksale lassen einen einfach nicht mehr los. Gestärkt setze ich mich zurück an den Schreibtisch. Bevor ich mich jedoch wieder den unterschiedlichen Arten, wie man ein Tier schlachten kann, widme, checke ich noch kurz meine E-Mails. Unsere junge Kollegin Lara König hat einen Bericht über ihren ersten Einsatz auf Kreta geschrieben und schickt ihn mir. Während des Lesens verfalle ich erneut in einen Tagtraum...
Mit einem Mal sitze ich nicht mehr an meinem Schreibtisch, sondern am großen Esstisch im New Life Resort, unserer Station auf Kreta. Mittendrin im Trubel. Christina tischt das Essen auf, welches gemeinsam in der Küche zubereitet wurde. Es duftet und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Der Tisch ist voll. Neben den „alten Arche-Hasen“ sitzen noch zwei neue Tierärztinnen aus Deutschland. Ich erkenne sie, es sind eben diese Lara, deren Bericht mich zum Träumen animiert, und Katrin. Beide wollten sich gerne unsere Arbeit anschauen und unsere Kastrationstechnik kennenlernen. Ich sehe fröhliche Gesichter, bei ausgelassener Stimmung. Dann verschwimmt alles wieder vor meinen Augen, das Essen und der Tisch sind weg und ich bemerke, wie meine Kleidung plötzlich ganz nass wird. Ich höre Gelächter und sehe auf einmal einen großen, klitschnassen Rüden. Seine rechte Vordergliedmaße scheint vor langer Zeit gebrochen zu sein. Er steht nur auf drei Beinen und schüttelt sich kräftig. Daneben Lara mit dem Gartenschlauch in der Hand, auch ihre Kleidung ist pitschnass. „Mensch Rudi...“ ruft sie lachend. Der Duft des leckeren Essens, der mir eben noch in der Nase lag, wird nun von dem des Hundeshampoos verdrängt, mit dem ich Rudi kräftig einreibe. Er genießt es schwanzwedelnd. Im nächsten Moment ist plötzlich alles dunkel, nur ein leises Schnurren ist zu hören. Aus Rudi wird ein getigerter Kater, der regungslos in einer unserer Quarantäneboxen liegt. Er scheint noch narkotisiert zu sein, nur schwach hebt er nun seinen Kopf, welchen ich zu kraulen beginne. Die Tür zum OP ist offen und wirft einen einzigen Lichtstrahl in das sonst dunkle Zimmer. Ich sehe Katrin und Melanie umher huschen, sie waschen benutztes OP-Besteck und räumen auf. Noch bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, welche Operation der tapfere Patient da wohl gerade hinter sich hat, wechselt die Kulisse erneut. Diesmal sehe ich einen der Gemeinderäume auf Kreta, in denen unsere Kastrationsaktionen stattfinden. Aus der Vogelperspektive erkenne ich Melanie trotz Mundschutz und OP-Haube auf Anhieb. Sie steht natürlich hinter einem OP-Tisch. Um sie herum drei weitere Personen, die sie neugierig bei ihrer Tätigkeit, dem Operieren, beobachten. Melanie erklärt etwas über das Finden des Eierstocks bei der Hündin, doch ich bin zu weit entfernt, um genau zu verstehen, was sie sagt. Alle drei nicken konzentriert. Ich versuche näher heranzukommen und sehe nun, dass es wieder Lara ist, die rechts neben Melanie steht, Katrin befindet sich links von ihr. Dann ist da noch diese dritte Person. Sie hat Locken und trägt eine Brille - Moment mal, das bin ja ich?!...
Das Klingeln meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist eine Nachricht von meiner Mutter: „Ich wünsche dir alles Gute für deine Prüfung morgen“, schreibt sie. Ach, könnte ich nur die Zeit zurückdrehen und wieder auf Kreta sein, oder noch besser in die Zukunft vorspulen und endlich selbst als Tierärztin arbeiten. Ich seufze und klappe den Laptop zu.
Vor einer Prüfung schlafe ich meist sehr unruhig. In dieser Nacht träume ich ein wildes Durcheinander. Ich träume von Blasensteinen, von einem Kloster voller Katzen und von einer kleinen cremefarbenen Hündin, die mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Ich träume davon, mit Thomas auf Kreta im Auto zu sitzen und Katzen dabei zu beobachten, in die von uns aufgestellte Falle zu gehen, damit ICH sie später kastrieren kann. Ich träume von Gesprächen über die Zukunft, darüber, wie es nach dem Studium für mich weitergehen wird. Gespräche über den Verein und darüber, wie dankbar ich bin, dass so viel Mühe und Zeit in mich investiert wird. Ich träume davon, eine gute Chirurgin zu werden und damit so vielen Tieren wie möglich zu helfen. Dafür möchte ich von den Besten lernen. Am Ende ist da ein Tisch und Melanie, die mich tätowiert, bevor mich mein Wecker wieder in die Realität befördert…
„Frage Nr. 12: Welche Aussage stimmt zur Schlachtung trächtiger Kühe?...“ Die Luft im PC-Pool der Uni, in dem gerade meine Fleischhygiene-Prüfung stattfindet, ist zum Schneiden dick. Ich spüre, wie mir eine Schweißperle am Rücken runter läuft, während ich versuche, diese widerliche Frage zu beantworten. Die Zeit am rechten Bildschirmrand läuft langsam rückwärts. Wie soll man sich bei der Hitze konzentrieren? Als ich mich zu meiner Wasserflasche runterbücke, fällt mein Blick auf meinen linken Knöchel. Was ist das denn???
Dort befindet sich, passend zum „DF“-Tattoo auf dem rechten Knöchel nun auch ein „NL“. Dies sind die Initialen, die unsere Tierärztinnen nach der Kastration unter den Bauch tätowieren, um nach der Wundheilung deutlich zu markieren, dass dieses Tier bereits kastriert ist. DF für „Dein Freund“ oder NL für „New Life“. Das DF trage ich schon lange. Es kam mit der Entscheidung Tiermedizin zu studieren, um den Tieren helfen zu können, um “ihr Freund” zu sein. Das NL ist neu. Wie bin ich denn dazu gekommen? Habe ich das alles wirklich nur geträumt? Ist es ein Zeichen für das „neue Leben“, welches nach meinem Studium kommen wird und dafür, dass Träume auch in Erfüllung gehen können? Ich bin gespannt, wovon ich in Zukunft träumen werde und wann Traum und Realität endlich vollständig miteinander verschmelzen.
Bis bald, Eure Miriam