Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass Talos mit seinem diplomatischen und freundlichen Talent ängstlichen Menschen ihre Angst nimmt, damit Vorurteile beseitigt und Perspektiven eröffnet.
Talos
Ein Bericht von Reinhold
Liebe Melanie,
Du weißt, dass ich schon seit vielen Jahren ein Hundefreund bin. In meinem Leben sind mir viele wirklich nette Hunde aller Altersgruppen und Größen begegnet, aber mein Herzblut hängt an meinem langjährigen Begleiter Timo, der sein Leben fast vollständig an meiner Seite verbracht hat. Kein einfacher Hund, ein Hovawart, aber was ich durch ihn und mit ihm gelernt habe, hat mich wirklich zu einem besseren Menschen gemacht, denke ich. Ich bin Unterstützer vieler Tierschutzorganisationen geworden und nach Timos Tod auch zum Veganer, weil ich den Gedanken unerträglich finde, ein einzelnes Tier von Herzen zu lieben, aber alle anderen zu übersehen oder ihrem Leben keinen Wert zuzusprechen. Geschlagene vier Jahre habe ich getrauert um meinen tierischen Bruder Timo, meinen geliebten Hovawart, und mein Herz ist immer noch schwer, wenn ich an ihn denke, aber es sollte ein anderer Hund bei mir einziehen, der eine Chance verdient hätte, in der Sicherheit eines guten Zuhauses zu leben und Timos Erbe anzutreten. Dies war der Tag, an dem der kleine Talos in mein Leben trat.
Talos ist nicht wirklich klein, sondern von mittlerer Gestalt, aber verglichen mit meinem alten Freund Timo erscheint er klein und ein Leichtgewicht. Talos’ Name habe ich nicht ohne Bedacht gewählt. Sein Name sollte seine Herkunft aus Griechenland in positiver Weise repräsentieren und die Initiale „T“ ist ein Attribut und Vertrauensvorschuss, um ihn mit meinem verstorbenen Begleiter Timo zu verbinden. Auch sein Halsband habe ich speziell nach griechischen Motiven anfertigen lassen.
Talos lebt nun seit etwas mehr als fünf Monaten bei mir. Leicht zu erkennen ist seine erstklassige Sozialisierung im Umgang mit Hunden, sicherlich eine Notwendigkeit beim Leben auf der Straße in seiner ursprünglichen Heimat. Und auch im Umgang mit Menschen verhält er sich stets freundlich. Er lässt sich nicht provozieren, weder von Hunden noch von Menschen und das entlastet die Nerven bei Spaziergängen phänomenal. In gewisser Weise betrachte ich ihn sogar als Genie im Zusammenhang mit Begegnungen während unserer Spaziergänge. Von drei kleinen Begebenheiten will ich gern berichten.
Die erste handelt von Talos und einem kleinen ukrainischen Jungen, einem Flüchtlingskind von zwei Jahren, welches noch etwas unbeholfen gerade so gelernt hat, eigenständig zu laufen. Ich hatte seine Eltern und ihn vor einer Weile getroffen. Sein Vater trug ihn auf seinen Schultern. Seine Mutter bat den Vater, ihn herunterzulassen, weil Talos und dieser Junge sich bereits kennen. Die Mutter erzählte mir, ihr Sohn sei zwei Jahre und zwei Monate alt, aber spreche noch kein einziges Wort. Doch offensichtlich ist er ein echter Tierliebhaber. Als er Talos wiedererkannte, erschien ein breites Lächeln in seinem Gesicht - wie schon einige Wochen zuvor.
Ganz offensichtlich mag auch Talos dieses Kind. Talos ist vorsichtig und sanft zu dem Kleinen, selbst wenn er auf seinen Hinterpfoten steht und die Vorderpfoten die Brust des Jungen berühren. Er verhält sich beileibe nicht so wild und ungestüm wie sonst in dessen Gegenwart und wirft den Jungen nicht um, was er leicht tun könnte. Er befindet sich ganz dicht an seinem Gesicht und der kleine Junge freut sich, Talos so nah bei sich zu haben. Er berührt ihn überall, und Talos beschwert sich nicht. Die beiden sind bereits Freunde geworden, und ich bin so froh, dass mein Hund dem Kleinen und seiner Mutter so viel Freude bereitet, wenn sie aufeinander treffen. Natürlich kennt die Mutter Talos aus den vorangegangenen Begegnungen bereits und weiß, dass er nichts Böses tut.
Sie scheint sich auch zu freuen, wenn ihr Sohn lächelt und mit diesem kleinen Hund spielt. Und der Zauber besteht darin, dass eine solch innige Begegnung so wunderbar zu beobachten ist. Beide sind voll aufeinander konzentriert und als wir schließlich unseren Spaziergang fortsetzen, höre ich den Jungen jammern und weinen...
Talos, du bist so ein talentierter kleiner Riese! Danke, dass du so viel Freude in ein Kinderherz bringst.
Die zweite Begebenheit hat sich auch bei einem unserer Gassigänge zugetragen. Talos verhielt sich perfekt und zeigte sich von seiner besten Seite :-) Er verfügt wirklich über ein großes Talent und Potenzial, Kinder für Hunde zu begeistern und zu ermutigen, mit ihnen warmzuwerden. Und zwar nicht nur Kinder, sondern Menschen im Allgemeinen. Aber gehen wir nochmal auf besagte Begegnung ein.
Ich bin mit Talos mehrfach am Tag unterwegs. Mein Mittagsrundgang erfolgt gegen 12 Uhr. Auf dem Rückweg nach Hause trafen wir eine Mutter mit ihrem Sohn, etwa vier oder fünf Jahre alt - dieses Mal war es nicht der kleine Junge aus der Ukraine, sondern ein Kind, das offensichtlich große Angst vor Hunden hatte. Er ging uns in großem Abstand aus dem Weg (unnötigerweise, versteht sich). Ich sah und spürte seine Furcht. Also liefen wir vorüber, doch einen Moment später blieb ich stehen, drehte mich um und rief, dass Talos ein sehr freundlicher Hund sei und er keine Angst haben müsse. Seine Mutter stoppte gleichfalls und ich bekam die Gelegenheit, dem kleinen Jungen zu erklären, wie man sich einem unbekannten Hund nähert. Er hörte aufmerksam zu, und seiner Mutter gefielen meine Erklärungen ganz offenbar. Ich erklärte ihm, dass er Talos grüßen könne, wenn er wolle, aber er solle sich ihm und jedem anderen Hund stets von vorne nähern und dabei immer mit freundlicher Stimme mit dem Tier sprechen. Dann hält man seine Hand in die Richtung des Vierbeiners, wobei die Hand nach unten hängt, um den Hund zu ermutigen, an der Rückseite zu schnuppern, bevor man ihn sanft berühren darf. „Möchtest du ihn streicheln? Er ist absolut lieb, versichere ich dir“, sagte ich. Und seine Mutter lächelte, denn sie spürte, dass dies eine wichtige Lektion sein könnte. Langsam näherte sich der Junge und ich wiederholte, er solle es am besten immer von vorn tun, wenn er Talos grüßen wolle und nicht von seitlich oder von hinten. Und außerdem sollte er besser seine Sonnenbrille abnehmen, um seine Augen zu zeigen. Der Junge tat dies und streckte schließlich vorsichtig seine Hand aus, immer noch in der Befürchtung, dass etwas Schlimmes passieren könnte - aber natürlich passierte nichts dergleichen. Stattdessen verhielt sich Talos so, wie es Hunde in einer solchen Situation tun; er beschnupperte den Handrücken des Jungen und kam dann näher an ihn heran. Die Überraschung, dass dies geschah, hätte selbst ein Blinder sofort gesehen. Vorsichtig berührte er Talos und gab ihm ein paar Streicheleinheiten. Ich sah, wie stolz der Junge schien, dass er seine anfängliche Furcht vor Hunden diesmal überwunden hatte. Aber er war immer noch scheu. Doch das ist nicht schlimm und sogar verständlich. Beim nächsten Mal wird er sich an diese Begegnung erinnern und nicht mehr so ängstlich sein. Seine Mutter war ausgesprochen angetan von dieser Lektion. Sie dankte mir mehrfach dafür, dass ich ihrem Sohn beigebracht habe, wie man sich in Gegenwart von Hunden verhält. Wir sagten auf Wiedersehen.... bis zum nächsten Mal.
Am Nachmittag des gleichen Tages trafen Talos und ich auf vier oder fünf Kinder im Alter von schätzungsweise acht Jahren. Sie spielten in einem VW-Bus, dessen Schiebetür offen stand. Talos sah sie und wurde natürlich neugierig. Er wollte gern in den Wagen klettern, aber ich habe ihm verboten, dies zu tun. Vier Mädchen hatten ihre Gesichter bemalt, wie es Kinder tun, und ich fragte, ob jemand Geburtstag habe. Ja, ein Mädchen antwortete, es sei ihre Feier, und ein anderes aus der Gruppe fragte, ob sie den Hund streicheln dürfe. Natürlich, kein Problem; ich weiß, dass Talos das gern mag. Alle wollten nun den Hund streicheln und Talos hat wieder neue Freunde gefunden :-).
Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass Talos mit seinem diplomatischen und freundlichen Talent ängstlichen Menschen ihre Angst nimmt, damit Vorurteile beseitigt und Perspektiven eröffnet. Talos ist ein „geborener Therapiehund“, könnte man glauben. Geschieht dies im Umgang mit Kindern, ist ein solches Verhalten praktisch unbezahlbar, denn es ändert die Einstellung gegenüber Tieren zum Positiven - und das zu einem frühen Zeitpunkt in einem Menschenleben. Was gäbe es Schöneres, wenn die Menschen alle Tiere wertschätzen würden. Sehen, lernen, wertschätzen und schützen. Insofern beantwortet sich auch leicht die Eingangsfrage nach dem Wert eines Straßenhundes.
In Dankbarkeit,
Reinhold