
Kaschu - Ein Blick, der mich nie wieder loslassen wird
Ein Bericht von Ronja Rolle
Es sind nun schon einige Wochen vergangen, seit Kaschu diese Welt verlassen hat. Doch der Kloß in meinem Hals wird nicht kleiner, das Gewicht auf meiner Brust nicht leichter. Sein Blick verfolgt mich - große, sanfte Augen voller Schmerz, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit. Ich hätte ihm so gerne ein besseres Leben geschenkt, ihn aus der Dunkelheit geholt, ihm gezeigt, dass er nicht mehr kämpfen muss. Doch das Schicksal hatte andere Pläne.
Es war mein sechster Einsatz in Veria. Ich wusste, was mich erwarten würde: Straßenhunde kastrieren, sie versorgen, so gut es geht helfen. Es ist jedes Mal das Gleiche – und doch immer anders. Dieses Mal warteten bereits vier Hunde auf uns als wir ankamen. Einer von ihnen zog sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Haut und Knochen, verkrustete Öhrchen, trockene Schnuffel, ein Blick, der tief in meine Seele drang. Ein Blick, der nichts mehr forderte, keine Hoffnung mehr hatte, der mich dennoch sofort dazu brachte, ihm helfen zu wollen.
Kaschu – so nannte ihn Sabrina – war in einem erschreckenden Zustand. Verängstigt, kraftlos, unfähig, etwas zu fressen. Sein Körper war nur noch eine leere Hülle, sein Allgemeinzustand sehr schlecht. Wir begannen sofort mit einer Infusion, nahmen Blut ab, versorgten ihn mit hochkalorischer Nahrung. Man warnte uns, er habe bereits gebissen. Doch es zeigte sich schnell, dass er einfach nur Geduld und Einfühlungsvermögen brauchte. Er war ein Hund, der eine schwere Geschichte zu erzählen hatte. Ein Hund, der so viel durchgemacht hatte, dass er kaum noch Kraft hatte zu vertrauen. Und doch ließ er alles über sich ergehen, ohne einmal nach uns zu schnappen. Er merkte, dass unsere Hände ihm nicht schaden wollen.
Sein geschundener Körper konnte kaum noch richtig stehen. Durch das viele Liegen waren seine Muskeln verkürzt, seine Beine steif. Neben der medizinischen Versorgung habe ich ihn auch physiotherapeutisch behandelt. Jedes Mal, wenn ich in den Nachsorgebereich kam, traf mich sein Blick. Große, tiefe Augen – so traurig, so erschöpft, so energielos. Und doch war da auch Sanftmut, Liebe, ein letzter Funken Hoffnung. Ich wollte ihn aufpäppeln, ihm eine Chance geben. Doch was würde nach unserer Abreise passieren?
Melanie suchte verzweifelt nach Unterbringungsmöglichkeiten für Kaschu für die Zeit nach unserer Abreise. A.C.E.-Tiere in Not e.V. erkannte den Ernst der Lage und wir durften Kaschu und andere Notfälle zu ihnen bringen. Umgehend wurde bei Kaschu eine dringend notwendige Leishmaniosebehandlung begonnen.
In mir keimte ein Gedanke auf, der mich nicht mehr losließ: Könnte ich seine Pflegestelle sein? Ich wusste, dass es schwierig werden würde. Mein Mann begleitete mich zum ersten Mal auf diesem Einsatz. Beim letzten Mal hatte ich bereits einen Hund zur Pflege mitgenommen – weil mein Herz es nicht anders konnte. Und nun war da Kaschu, der mich nachts nicht schlafen ließ, dessen Blick mich nicht mehr losließ.
Nächte voller Gespräche statt Schlaf. Könnten wir das stemmen? Dann die Blutwerte. Kaschu hatte Leishmaniose und andere Mittelmeerkrankheiten. Ich begann mich intensiver damit auseinanderzusetzen. Viele der Arche Schützlinge von Sabrina haben Leishmaniose – schwer zu vermitteln, weil sie besondere Bedingungen brauchen: Stabilität, wenig Stress, feste Routinen. Und als ich auf mein eigenes Leben blickte wurde mir klar, dass wir ihm das nicht bieten konnten.
Jede freie Minute nutzte ich, um Kaschu zu zeigen, dass es auch gute Menschen gibt. Ihm Vertrauen zu geben, ihn zu stärken. Doch das Ende unseres Einsatzes kam viel zu schnell. Zusammen mit einer Hündin, die auch schwer an Leishmaniose erkrankt ist und einem Dreibeinchen durfte ich ihn in das Tierheim in Epanomi bringen. Ich war schon einmal dort gewesen und mein Herz machte einen kleinen Sprung – denn ich wusste, dass er dort die beste Chance hatte. Die Mitarbeiter nahmen ihn liebevoll auf. Ich führte ein langes Gespräch mit ihnen und wusste, dass er hier gut aufgehoben ist. Vor allem, da Melanie und Sabrina ganz bald dort den nächsten Kastrationseinsatz haben werden und dadurch die Schützlinge auch weiter selbst betreuen konnten.
Und dann der Abschied. Ein letzter Blick in seine sanften Augen, eine letzte Streicheleinheit über sein weiches Fell hinter den verkrusteten Öhrchen. Mein Plan, ihn irgendwann zu uns zu holen, war nicht ganz aufgegeben. Ich wusste, es würde schwierig werden und ich müsste noch mehr Gespräche führen, aber vielleicht, eines Tages … Er hatte zugenommen. Es ging ihm besser. Ich war mir sicher, dass er es schaffen würde.
Zurück in Deutschland ließ Kaschu mich nicht los. Es ist merkwürdig, wie schnell ein Hund sich in unser Herz schleichen kann. Und dann kam die Nachricht – wie ein Schlag. Es ging ihm schlechter. Seine Blutwerte waren miserabel und er musste eine Bluttransfusion bekommen. Er fraß nicht mehr und nahm gefährlich ab. Leishmaniose ist unberechenbar und ein einziger Schub kann alles zerstören. Ich bangte, hoffte, wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er es schaffen würde. Der Tierärztepool hatte ihn bereits als Arche-Schützling ausgewählt. Er würde eine Zukunft in Deutschland haben. Er musste nur noch ein bisschen kämpfen.
"Das Kämpferherz hat leider aufgehört zu schlagen. Gute Reise Kaschu". Ich las die Nachricht von Melanie, doch es dauerte einige Minuten, bis ich die ganze Tragweite verstanden hatte. Kaschu hat seinen Kampf verloren.
Jetzt, Wochen später, bleibt nur ein harter Kloß im Hals und die Frage, was hätte sein können. Was wäre gewesen, wenn wir früher da gewesen wären?
Zurück bleibt die Hoffnung, dass er in seinen letzten Tagen wenigstens ein bisschen Liebe gespürt hat. Dass er nicht gegangen ist, ohne zu wissen, dass es Menschen gibt, die ihn gesehen haben. Die ihn nicht vergessen werden.
Wir werden dich nicht vergessen, Kaschu.
Deine Ronja