Cosmo
Ein Bericht von Antonia Xatzidiakou | Tierärztin
Es war Dezember 2017.
Ich erinnere mich, dass es den ganzen Tag ein buntes Treiben gab.
Eine Tierschützerin auf Rhodos hatte bereits am Morgen geschrieben, dass ein weißer Kater in schrecklichem Zustand bei ihr herumläuft. Schrecklicher Zustand. Aha. Das hören wir oft, ist häufig aber nicht der Fall. Manchmal ist die Beschreibung „schrecklicher Zustand“ ein Tier mit Parasiten, manchmal ein Tier mit Haarverlust oder auch ein Tier mit verkrusteten Augen.
Schrecklich ist inzwischen relativ und hängt sehr davon ab, was die jeweiligen Melder gewohnt sind. Straßenkatzen leben nunmal nicht auf dem Sofa und werden auch nicht täglich umsorgt.
„Er ist wild, ich kann ihn so nicht in die Transportbox stecken.“
„Du sollst ihn so sowieso nicht in die Box packen, du wirst sicher gekratzt oder gar gebissen.“
Bei „normalen“ Menschen muss man immer vorsorgen, damit sie bei ihren waghalsigen Einfangversuchen nicht verletzt werden.
Einen Streunerkater einfach so auf den Arm zu nehmen, zu streicheln und in eine Transportbox zu stecken ist definitiv nicht so einfach, wie es bei der eigenen Katze zuhause der Fall ist.
Die Tiere kennen all das nicht und am Ende gibt es fast immer Kratzer, Blut (und sicher kein Blut von der Katze), Enttäuschung, eine leere Box und ein Tier, was in den nächsten Tagen nicht wieder auftaucht.
„Du solltest dir eine Falle besorgen!“
„Mach ich, wie funktioniert diese?“
„Wir schicken Dir ein Video, wie sie richtig aufgestellt wird.“
„Der Kater geht nicht rein, er riecht nur am Futter.“
„Mach etwas Leckeres rein.“
„Er will nicht rein, vielleicht schmeckt ihm das Dosenfutter nicht.“
„Probiere es mal mit Thunfisch.“
„Er will immer noch nicht in die Falle gehen, er sieht so schlecht aus, bald ist es dunkel!“
„Dann probiere es mit Sardinen, damit klappt es fast immer.“
Über Stunden ging das Gespräch hin und her. Gleichzeitig stand ich am OP-Tisch und die Tiere wurden rein- und fertig kastriert wieder rausgebracht. Ich muss konzentriert und fokussiert sein, denn Fehler im OP kann ich mir nicht leisten.
Gleichzeitig bildet das Handy ein paralleles Universum. Anfragen von Tierschützern müssen beantwortet und viele weitere Dinge, ganz nebenbei, gemanagt werden.
Ich antwortete der Dame mit dem weißen Kater in den freien Minuten zwischen den Kastrationen. Mist, noch immer konnte die Dame die Katze nicht einfangen. Da hatte Claudia die rettende Idee.
Claudia ist die beste Katzenfängerin, die ich kenne. Und wie eine Fänger-Göttin, kam sie uns zur Rettung. Ihre jahrelange Erfahrung zahlte sich aus und sie hatte die Lösung für unser Problem parat. „Probiert ihn mit einer Plastik Ikea-Box von oben einzufangen. Mach anschließend ein paar Löcher in die Box, damit er atmen kann“, sagte Claudia.
Das Resultat: ein eingefangener Kater und Stille im Handy! Endlich!
So fand der große, weiße Kater in einer Ikea-Box den Weg zu uns. Damals arbeiteten wir noch im städtischen Tierheim. Es ist schon fünf Jahre her, aber ich weiß noch genau, dass es spät war, als das Auto um die Ecke bog.
Der große, weiße Kater war in diesem Fall tatsächlich in schrecklichem Zustand. Dehydriert, abgemagert, schlechte Zähne, Wunden von Revierkämpfen, Otitis und beide Ohren waren bereits tumorös verändert. Kein Wunder, wie Sie inzwischen auch wissen, weiße Katzen und Sonnenstrahlung passen nicht gut zusammen. Ein harmloser, aber kontinuierlicher Sonnenbrand entartet irgendwann zu Krebs und dann tickt die Uhr. Bei dem großen, weißen Kater tickte sie schon längst.
Es war spät abends, der 12. Dezember 2017, als das Ticken der Uhr für ihn stoppen sollte.
Beide Ohren wurden amputiert, er bekam alle möglichen Medikamente und durfte anschließend zurück. Er durfte in Ausras Garten ziehen, wo er weiter betreut werden konnte. Sein Leben ging weiter. Ebenso der Kastrationseinsatz. Katzen rein, unfruchtbare Katzen wieder raus. Wir tun, was wir tun müssen, um das Leben der Streuner in kleinen Schritten besser zu machen.
„Ihm geht‘s nicht gut!“, schrieb Ausra einige Tage später. Im parallelen Universum im Handy ging die Action wieder los. Diesmal ging es darum, eine Hilfskette zu organisieren. Der große Weiße musste erneut gefangen und zu uns gebracht werden. Helfende Hände machten sich auf den Weg und der Kater kam wieder zu uns ins Tierheim. Provisorisch machten wir es ihm in einer großen Hundebox im Badezimmer gemütlich. So konnten wir dem wilden Kater Medikamente geben und seinen Gesundheitszustand engmaschig überwachen. Nach ein paar Tagen verbesserte sich sein Zustand, sodass er wieder in seinem Garten rausgelassen werden konnte.
Dies wäre zumindest die Wunschvorstellung des Krankheitsverlaufs unseres kritischen Patienten. Leider sollte diese Geschichte nicht so enden.
Der große Weiße blieb instabil, krank und brauchte intensive Betreuung.
Intensive Betreuung in der perfekten Welt, wie sie in Deutschland ist, bedeutet Klinik, Kabel, Monitore. In unserer Streuner-Welt bedeutet es, dass er bei mir mit im Haus einzieht. Aus dem großen Weißen wurde Cosmo. Aber das Streunerleben hatte seinen Preis. Cosmo war mit FIV, Katzen-AIDS, infiziert und sah lange schlecht aus.
Doch von Tag zu Tag ging es ihm besser.
Wir und alle Vereine, die Tiere vermitteln, haben immer wieder Fälle wie Cosmo: An FIV erkrankte Tiere, die zu allem Überfluss noch weitere Probleme mit sich bringen. Was macht man mit einem Tier, das die Mehrheit der Menschen nicht adoptieren will? Was medizinisch enger betreut werden muss und fast immer eine Baustelle bleiben wird? Es gibt keine richtige Antwort auf diese Frage, schon gar nicht, wenn man mitten in der jeweiligen Geschichte steckt.
Cosmo wollte leben, dass konnte ich täglich beobachten. Und wer wäre ich, würde ich ihm die Chance auf ein Leben verweigern?
Wenn es Chancen gibt, sollte man Chancen geben. Es ist nur eine Sache des Engagements und der eigenen Zeit. (Und ja, auch des Geldes!)
Aus dem großen Weißen wurde ein König. Sein Königreich erstreckte sich über mein Gästezimmer. Er wirkte glücklich und zufrieden. Sein eigenes Zuhause fand sich aber nicht.
Und dann kam Patricia.
Patricia sah Cosmo auf der Internetseite unseres Partnervereins „Flying Cats e.V.“. Trotz fehlender Ohren, trotz FIV, trotz all der anderen größeren und kleineren Probleme. Cosmo war in seinem eigenen Zuhause angekommen, bei Patricia. Seine Lebens-Uhr tickte weiter und auch unser Leben ging weiter.
Natürlich war es nicht immer einfach, denn Cosmo musste weitere sechs Male operiert werden. Mal musste ein Zahn gezogen werden, dann ein kleiner Tumor hier, ein weiterer dort, die Milz, die auch tumorös wurde, entfernt werden und dann tauchte doch wieder ein neuer Tumor auf. Jedes Mal war ich mir sicher, dass Patricia aufgeben würde. Dass sie irgendwann sagt, dass sie die hohen Kosten nicht mehr tragen könne oder das ständige Auf und Ab nicht mehr erträgt. Doch Patricia war stets bei ihm. Egal was, egal wie oft, Cosmo war nie wieder allein. Die Jahre vergingen und immer wieder habe ich sein lustiges Gesicht per Foto gesehen und alles von seinem Leben mitbekommen. Ich kann nicht beschreiben, was für ein Gefühl es ist zu erleben, wie ein Leben, dass es ohne Hilfe nicht mehr geben würde, glücklich und lang wird. Wenn eine Existenz, die längst nicht mehr da wäre, dir vom Bild direkt in die Augen schaut und sagt: „Ich bin glücklich“.
Es ist Oktober 2022. Ich bereite mich langsam auf die nächste Kastrationsaktion auf Rhodos vor. Aber etwas ist aber anders. Fünf Jahre sind vorbei. Und unseren geliebten Cosmo gibt es seit kurzem nicht mehr. Der Krebs hat nach fünf Jahren gewonnen. Gewonnen in dem Sinne, dass sein Körper nicht mehr existiert. Meine Erinnerung aber wird nie vergehen! Ich sehe ihn. Immer und immer wieder in den Ärmsten der armen Tiere. In den Tieren, bei denen man sich fragt: „Lohnt sich der Kampf überhaupt?“ In den Tieren, die vom Leben komplett verlassen erscheinen und nur eine Hand suchen, um ein bisschen Liebe zu erleben. In den Tieren, an die keiner glaubt.
Cosmo hat vollkommene Jahre gehabt. Danke Patricia, dass du in ihm deine Familie gesehen hast. Und wie Claudia sagte „Ihm in fünf Jahren Liebe im Wert von 50 Jahren gegeben hast“. Unser Herz wird für immer eine Ecke haben, in dem ein großer, weißer Kater mit fehlenden Ohren chillt.
Deine Antonia