Der lange Atem
Ein Bericht von Nina Schöllhorn, Tierärztin
Ich befand mich auf der Heimfahrt zu unserer Unterkunft in Bals, in Südrumänien. Es lag ein anstrengender, langer Tag am OP-Tisch hinter mir. Alles, was ich mir wünschte, war ein warmes Essen, ein bisschen Ruhe und Gemütlichkeit, um abschalten zu können.
Mein Blick fiel, wie immer, auf die Parkbucht an der wir jeden Tag vorbeifuhren. Drei neue Hunde. Mein Herz wurde schwer. Drei neue Gesichter, nach denen ich von nun an Ausschau halten würde. Immer in der Sorge, dass sie plötzlich angefahren am Straßenrand liegen, oder einfach so verschwunden sind, ohne dass wir je erfahren werden, was ihnen zugestoßen ist.
Diese Parkbuchten sind die typischen Stellen, wo es ganz normal zu sein scheint, seine Hunde und Katzen auszusetzen. Genau diese Parkbuchten machen mir hier in Rumänien das Leben schwer. Die Stimmung war inzwischen nicht mehr die beste und ich hing meinen Gedanken nach. Und da war sie wieder. Die dünne Hündin, die ich seit einiger Zeit wenige hundert Meter von unserem Haus an einer Kreuzung beobachte. Offensichtlich hatte man sie dort entsorgt, denn sie bewegte sich nicht weg. Alles was ich im Moment für sie tun konnte, war sie zu füttern und sie gegen Parasiten zu behandeln.
Frustriert kam ich Zuhause an. An Abschalten war nicht mehr zu denken. Man will so gerne mehr tun, möchte sie alle in Sicherheit bringen und ihnen eine glückliche Zukunft versprechen. Doch wir können unmöglich alle retten, dies wäre utopisch und hätte nichts mit dem Tierschutz zu tun, den wir gutheißen. Dem Leid hier jedoch täglich ausgesetzt zu sein und sich oft einfach nur hilflos zu fühlen ist schwer zu ertragen.
Was bringt das also alles? Was tun wir hier? Ist alles sinnlos? Hoffnungslos?
Im Angesicht des Einzelnen, dem wir in diesem Moment nicht helfen können wie wir wollen, fühlen wir uns ohnmächtig, hilflos und das „Böse“ scheint übermächtig.
Doch immer wieder rufe ich mir die Worte von Thomas ins Bewusstsein:
“Das Elend, welches wir verhindert haben, ist nicht sichtbar!“
Und genauso ist es. Das, was wir noch nicht geschafft haben, hält man uns schmerzhaft vors Gesicht. Das aber, was wir alles erreicht haben, sehen wir nicht mehr und vergessen es somit leicht.
Es ist ohnehin keine Frage. Es werden immer wieder die Ärmel hochgekrempelt und es geht weiter. Natürlich.
Und wenn ich etwas Ruhe finde, so wie jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, fällt mein Blick auf sieben Hunde, die zu meinen Füssen liegen. Sie alle kamen aus größter Not zu uns. Sie alle haben bei uns ihre Chance bekommen, seelisch und körperlich zu heilen und eine glückliche Zukunft zu finden. Vor ihnen lagen schon hunderte andere an dieser Stelle.
Während ich still an diesem Text schreibe, ist Gabriel 200km entfernt von hier mit einem „seiner Romahunde“ auf dem Weg in eine Klinik, da sie dringend fachmännisch operiert werden muss. Den Vormittag verbrachte er bei „seinen“ Arbeitspferden. Wir sind gewachsen in Rumänien über die Jahre. Wir sind an verschiedenen Standorten zeitgleich aktiv, haben verschiedene Pflegestellen im Land gefunden und mehrere Tierärzte, mit denen wir zusammenarbeiten.
Der Blick in den Arche-Kalender verrät mir, in welchen Ländern und Standorten unsere Teams sonst noch unterwegs sind. Es ist beeindruckend, immer wieder neue Namen auftauchen zu sehen, neue Tierärzte und Assistenten, die nach und nach zum Team dazu stoßen.
Es sind tatsächlich über 15 Jahre vergangen, seit ich zum Tierärztepool gekommen bin. Damals war ich die dritte im Boot, nach Thomas und Ines. Wie klein wir doch waren! Ich hätte mir niemals zu träumen gewagt, wie sich der Tierärztepool entwickeln würde. Ehrlicherweise hatte ich auch nie darüber nachgedacht. Ich war stets auf das fokussiert, was sich direkt vor mir befand, das, was als nächstes getan werden musste. Doch Thomas hat schon immer in die Zukunft geschaut und seine Träume ausgesprochen. „Wir müssen wachsen und viele werden!“. Ich konnte diese Vision sehr lange nicht wirklich teilen und muss jetzt ehrlich beeindruckt feststellen, wie recht er hatte und dass es auch tatsächlich alles so gekommen ist.
Zu wissen, dass an vielen Stellen gleichzeitig operiert und behandelt wird, dass zeitgleich den Ärmsten der Armen in verschiedenen Ländern durch unsere Teams Hilfestellung geboten wird, ist einfach großartig.
"Was man also braucht in diesem Land und auch an unseren anderen Einsatzorten, ist ein langer Atem. Und eine Vision."
Man darf sich nicht durch das Elend, mit dem man zwangsläufig Tag für Tag konfrontiert wird, entmutigen lassen. Man muss sich immer wieder verinnerlichen, was wir schon geschafft haben und wo wir uns hinbewegen wollen. Dazu muss man manchmal innehalten und durchatmen.
Am besten tut man das auch dann und wann in Deutschland, fernab von Parkbuchten und ausgesetzten Hunden. Es tut gut, zu wissen, dass dann trotzdem weiter gearbeitet wird, dort an der Front, da wir inzwischen viele sind. Und gemeinsam fällt auch Vieles leichter und gemeinsam geht einem auch der Atem nicht so schnell aus.
Danke an den Teil unseres Teams, den ich an mancher Stelle gar nicht kenne, ich aber spüre, dass da genau das ist, was ich latent vor 15 Jahren auch fühlte: Eine große Vision, die nicht groß genug sein kann. Danke an all jene, die uns seit Jahren unterstützen, so dass wir wachsen konnten.
Herzliche Grüße aus Rumänien,
Ihre Nina