Die Geschichte einer Piratin
Ein Bericht von Miriam Klann, Tiermedizinstudentin
Die größte Angst eines jeden Hundes in einem Disney- oder Hollywoodfilm sind die Hundefänger. Gruselige Gestalten, die hinter den Hunden her sind, sie einfangen und dann ins Tierheim bringen. Was es in Deutschland nicht gibt, ist in Rumänien tatsächlich ein eigener Beruf. Hundefänger. Sie werden von verschiedenen Leuten an Orte geschickt, um dort die Tiere einzufangen. So auch an diesem Tag. Eine kleine Hündin hatte einen Autounfall und liegt nun verletzt, in Seitenlage auf einem Supermarktparkplatz. Es sei wohl ein schrecklicher Anblick. Klarer Fall für die Hundefänger, die mit Fangstab bewaffnet, in ihrem weißen Kastenwagen das Tierheimgelände verlassen. Wie klischeehaft. Nina und ich arbeiten in diesem Tierheim. Eine Kastrationsaktion findet dort, in Bals, statt.
Kurze Zeit später kommen die Hundefänger wieder. Wir hören, wie das Auto über den Kies in die Einfahrt fährt. Ich husche hinaus, möchte als erste unsere neue Patientin anschauen. Vorsichtig öffne ich die Hintertür des Autos. Es ist stockdunkel in dem Wagen. Nur durch den Türspalt gelangt ein wenig Licht ins Innere. Gerade so viel, dass ich etwas erkennen kann. Ich sehe nicht nur einen, sondern gleich drei Hunde. Da waren die Hundefänger auf dem Hin- und Rückweg aber fleißig… In die Ecken gedrängt funkeln mich ängstliche Augen an. Die Hunde sind nicht in Käfigen untergebracht, sie liegen direkt auf der Ladefläche. Mit dem Fangstab um den Hals so platziert, dass sie sich kaum rühren können, zitternd vor Angst. Der eine Hund muss in einer sehr ungemütlichen Position ausharren, um sich nicht selbst zu strangulieren. Ich muss die Tür ein bisschen weiter öffnen, damit mehr Licht hineinkommt, um unsere Patientin, für die ich ja hinaus gegangen war, richtig zu sehen. Die schwarz/braune Hündin sitzt hechelnd in der hinteren, rechten Ecke. Ihr gesamter Kopf ist blutüberströmt, beide Augen sind aus den Augenhöhlen hervorgetreten. Das muss höllisch wehtun, denke ich mir, als plötzlich jemand die Autotür vor meiner Nase zuknallt. Vor Schreck mache ich einen Satz nach hinten. Einer der Hundefänger erklärt mir auf rumänisch und mit Händen und Füssen, dass ich vorsichtig sein muss, dass der Hund sehr gefährlich und bissig sei. So viel verstehe ich zumindest. Nun gut, stellt man sich einmal vor, man wird von einem Auto getroffen. Von jetzt auf gleich ist man komplett blind und orientierungslos. Man schmeckt den Geschmack von Blut im Mund, hört lautes Geschrei um einen herum und hat schreckliche Schmerzen. Dann versucht jemand eine Schlinge um den eigenen Hals zu werfen. Da soll bitte derjenige den ersten Stein werfen, der nicht panisch um sich schnappen würde.
Ich gehe also zurück in den OP, um mit Nina einen Plan zu schmieden, wie wir die verletzte Hündin, welche weder Halsband noch Leine trägt und unfixiert in dem Kastenwagen liegt, am schonendsten da rausbekommen. Statt mit Fangstab bewaffnen wir uns mit einer Wolldecke und einer Narkosespritze. Zu zweit öffnen wir erneut den Kastenwagen. Die Hündin ist mittlerweile allein in der Dunkelheit. Die anderen zwei Gefangenen wurden bereits in eine Tierheimzelle gebracht. Ein paar Tage später soll ich den einen Hund zur Kastration anspritzen und kann mich kaum dem Zwinger nähern, so ängstlich/aggressiv reagierte er auf menschlichen Kontakt. Ob das Einfangen durch die Hundefänger die Ursache ist oder er davor schon so drauf war, ist wohl eine andere Geschichte, aber gehen wir zurück in den Kastenwagen.
Zu unserem Glück hatte sich die verunfallte Hündin auf die Seite des Autos gelegt, an der eine Seitentür vorhanden ist. Während Nina durch die Hintertür per Klopfen und Pfeifen die Aufmerksamkeit auf sich zieht, gelingt es mir unbemerkt die Seitentür einen Spalt zu öffnen. Ich weiß, ich habe nur diesen einen Versuch. Gelingt es mir nicht, den Hund mit der Decke zu fixieren und ihr die Spritze zu verabreichen, wird das vermutlich für alle Anwesenden ein unangenehmer Kampf werden. Vor meinem inneren Auge läuft ein Countdown ab. Eins. Zwei. Drei. Mit einer schnellen Handbewegung werfe ich die große Wolldecke auf den vor Angst regungslos starren Körper der kleinen Hündin. Öffne die Seitentür ein wenig mehr, suche mit der linken Hand den Oberschenkel, injiziere den Inhalt der Narkosespritze und schließe mit einem Ruck die Seitentür wieder. Schnaufend stehe ich neben den Wagen. Mein Herz pumpt wie verrückt.
Wir geben der Injektion ein paar Minuten Zeit, um zu wirken. Als ich ein drittes Mal die Autotür öffne, schläft die Hündin tief und fest. In der Wolldecke eingewickelt trage ich sie in den OP. Alles ist bereits auf den Notfall vorbereitet. Als ich das Vorderbein für den Venenkatheter rasieren möchte, gerate ich ins Stocken. Die Stelle am Bein ist bereits rasiert. Mein Blick fällt auf den Bauch der Hündin, auch dieser ist kahl. Nina beantwortet meine unausgesprochene Frage, in dem sie das Hinterbein anhebt und ein frisch gestochenes „DF“ („Dein Freund“) Tattoo neben einer kleinen OP-Naht zum Vorschein kommt. Diese Hündin ist bereits bei uns gewesen. Sie war eine unserer Patientinnen und wurde vor ein paar Tagen kastriert. Wir beauftragen unsere rumänische Rezeptionistin, nachzuforschen wohin /zu wem dieser Hund gehört und fahren mit der Behandlung fort. Nachdem Nina das Gesicht von all dem Blut befreit hat, gelingt es ihr, eines der Augen zu reponieren, sprich es wieder zurück in die Augenhöhle zu drücken. Das Augenlid näht Nina zu, um den Augapfel daran zu hindern, wieder herauszufallen. In ein paar Tagen kann die Naht wieder gezogen werden. Dann wird sich zeigen, ob der Sehnerv geschädigt wurde oder das Auge tatsächlich noch „sehfähig“ ist. Das andere Auge wurde durch den Unfall leider komplett zerstört und muss chirurgisch entfernt werden. Da die Hündin keine weiteren Verletzungen am Körper trägt, wird das Auto bei dem Unfall wohl hauptsächlich ihren Kopf erwischt haben. Ich nenne unsere nun einäugige Patientin „kleine Piratin“ und leiste ihr beim Aufwachen Gesellschaft. Sie trägt einen roten Kopfverband, der sie daran hindert, ihren Kopf anzuheben, dafür reicht die Kraft noch nicht. Doch als ich sanft mit ihr spreche, beginnt sie langsam mit dem Schwanz zu wedeln. Von wegen gefährlich, von wegen bissig. Sie scheint mir wegen der Überwältigung mit der Wolldecke nicht böse zu sein, ganz im Gegenteil.
Natürlich begleitet uns die kleine Piratin nach Hause, in dem Tierheim kann ein blinder Hund auf keinen Fall bleiben. Um sie vor der wilden Rasselbande in unserem Garten, bestehend aus distanzlosen Welpen und frechen Katzen, zu schützen, bauen wir ihr einen kleinen Laufstall mit Hütte und Sonnensegel, in dem sie sich zurechtfinden und zur Ruhe kommen kann. Ihr Name ist nicht nur aufgrund ihrer Einäugigkeit sehr passend, denn die kleine Piratin kapert unsere Herzen in Windeseile. Wenn wir sie rufen, steht sie schwanzwedelnd am Gatter ihres Auslaufs - zwar meist an der falschen Seite, aber Orientierung ohne Augen muss ja auch erstmal erlernt werden. Sie erschnüffelt sich tapfer das Futter und Wasser, lässt ohne Mucks jegliche Behandlung, wie zum Beispiel die Augentropfen mehrmals täglich, zu und genießt die Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Nachdem sie jemanden ausführlich ertastet, erschuppert und für gut befunden hat, lehnt sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht an und will nichts weiter als gekrault werden. „Dir vertraue ich“ - ehrlicher und mehr von Herzen kommend kann eine Geste nicht sein. Und das trotz Wolldecken-Überwältigung meinerseits.
Als nach einigen Tagen die Lidnaht des erhaltenen Auges entfernt wird überrascht sie uns aufs Neue. Unsere kleine Piratin bleibt leider völlig blind. Der Sehnerv wurde zu sehr geschädigt. Was uns traurig macht, ist ihr scheinbar total egal. Es ist so bewundernswert wie sehr die Tiere im Moment leben, wie schnell sie sich an veränderte Lebenssituationen anpassen und wie leicht sie diese schwere Last der Einschränkung tragen können.
Wir konnten herausfinden, dass die Piratin in einem kleinen Dorf bei sehr armen Menschen gelebt hat. Diese haben sie auch zur Kastration gebracht. Als eines Morgens die Frau zur Arbeit fuhr, beschloss die mutige Hündin wohl, sie begleiten zu wollen und rannte ihr hinterher. Den langen Weg zum Supermarktparkplatz, bis ein Auto sie traf und sie von einer Sekunde auf die andere plötzlich blind war. So wird es uns zumindest erzählt. Über jegliche sozialen Plattformen versuchen wir die „Besitzer“ der Hündin ausfindig zu machen, ihre Geschichte zu streuen. Doch niemand meldet sich. Keiner scheint sie zu vermissen, keiner scheint um sie zu trauern…
Die kleine Piratin trauert auch nicht. Weder um ihr altes Zuhause noch um ihr Augenlicht. Sie ist sichtbar glücklich und lebensfroh.
Durch den Autounfall nimmt ihr Leben eine schicksalhafte Wendung. Sie verliert ihr Sehvermögen, doch sie gewinnt die Reise in ein neues Leben.
Die kleine Piratin heißt nun „Vega“ und lebt in einem traumhaften Zuhause in Deutschland, wo Wolldecken nur noch zum Einkuscheln verwendet werden und es keine Hundefänger gibt. Auf beeindruckendste Art und Weise zeigt sie uns, wie gut ein blinder Hund im Alltag zurechtkommen kann. Obwohl ihr schon so viel Schlechtes im Leben widerfahren ist, vertraut sie den Menschen - blind.