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Kannst Du bitte?

von Julia Gruhn, Tierärztin

9 Uhr morgens. Tag 6 von 12. Halbzeit. Es ist kalt. Der Wind pfeift durch die undichten Fenster und unsere Finger sind klamm, obwohl wir schon mitten beim Arbeiten sind. Wir stehen in einem kleinen, umfunktionierten Raum eines griechischen Tierheims. Draußen bellen die Hunde in ihren Gehegen. Es riecht nach Desinfektionsmittel, nach nassem Fell, nach Tierheim und einem Hauch von „hier hat jemand Durchfall gehabt“. Ein Blick auf unseren Zeitplan verrät: Der Tag wird lang. Wie jeder Tag hier.

Ich atme tief durch und binde mir die OP-Maske um. Noch bevor ich das Skalpell in die Hand nehme, drehe ich mich zu meiner Assistentin: „Kannst du bitte schon den nächsten Hund sedieren? Oder machen wir mit den Katzen weiter?“ „Der nächste Hund kann gleich rein, die Katzen machen wir dann später. Ich habe dem Herrn erklärt, wann er die Hunde wieder abholen kann. Der kleine Welpe, den wir beim Ankommen gesehen haben, den habe ich wegschicken müssen, der war noch zu jung.“ Ich nicke und schalte währenddessen meine OP-Lampe an, ziehe meine sterilen Handschuhe über und mache mich bereit für den ersten Schnitt.

Die Operationen laufen routiniert und schnell. Ein Tier nach dem anderen. Wir haben keine Zeit für lange Pausen, keine Zeit für Leerlauf. Das ist ihre Aufgabe, dafür sollte sie sorgen. Jede Verzögerung bedeutet, dass wir abends länger stehen müssen. „Mein Hund braucht nochmal Narkose. Kannst du bitte Narkose nachgeben?“ Schon erledigt. Ein kurzer Blick auf die Atmung, ein kontrollierter Griff zum Infusionsbesteck. Während ich mich auf meine OP konzentriere, jongliert sie zwischen Narkosen, Patientenüberwachung und durchfallgeplagten Transportboxen.

„Kannst du mir bitte nochmal einen Tupfer aufmachen?“ Zack, liegt er da. Ohne zu fragen, ohne zu zögern. Ich schwöre, manchmal weiß sie schon, was ich brauche, bevor ich es selbst weiß. Das hier ist kein klassischer OP, wo alles strukturiert abläuft. Hier ist es improvisiert, hektisch und manchmal chaotisch. Heute kommen wir gut voran, bisher keine Notfälle, keine Zwischenfälle.
„Eine Katze hat sich erbrochen! Kannst du schnell schauen, ob die Atemwege frei sind?“  Alles klar, während ich zügig meine letzte Hautnaht setzte, hat sie die Situation längst unter Kontrolle. Sie hebt vorsichtig den Kopf des aufwachenden Tieres an, angelt das Erbrochene aus der Maulhöhle, überprüft die Atmung – alles läuft, als hätten wir das tausendmal geprobt. (Spoiler: haben wir.) „Kannst du bitte auf diese Katze nochmal ein extra Auge halten? Die hat bei der Narkose so schlecht geatmet.“  Ich weiß, dass sie das gewissenhaft tun wird. Auf sie ist immer und überall Verlass. So kann ich mich gedanklich voll und ganz auf meine OP konzentrieren.

Es gibt keine OP, wenn kein Tier auf dem Tisch liegt. Und kein Tier auf dem Tisch, wenn sie nicht dafür sorgt, dass der Ablauf vorangeht. „Schon wieder hat eine erbrochen. Kannst du nochmal?“ Schon erledigt. Ohne große Worte, ohne Ekel. Nur mit der Routine, die uns beide durch diese Einsätze trägt. Kot wegwischen, Urin aufsaugen, Erbrochenes beseitigen, viel Erbrochenes beseitigen, Würmer aus allen Körperöffnungen ziehen, Zecken absammeln - auch das ist ein großer Teil der Arbeit. Es wird viel abverlangt.  
Und dann kommt der Moment. Ich bin mitten in einer OP, alles läuft – bis es plötzlich nicht mehr läuft. Eine größere Blutung, das Gewebe reißt, ich sehe nicht genug. Ich merke, wie mein Puls steigt, meine Hände arbeiten schnell, aber ich brauche Hilfe. „Komm schnell!“

Keine Sekunde später steht sie neben mir. Sie reicht mir genau das, was ich brauche, noch bevor ich es verlangen kann. Gibt mir Tupfer, reicht mir einen neuen Faden. Sie redet nicht viel, sie ist einfach da. Aber es reicht nicht. Ich sehe nicht genug. Ich murmele immer wieder in meinen Mundschutz: „Ich sehe nichts. Ich sehe einfach nicht genug.“ Ich bin so im Tunnel, dass ich es gar nicht richtig mitbekomme, aber sie hat irgendwo eine alte Schreibtischlampe hergezaubert, die sie nun mit todernster Miene über mein OP-Feld hält und stoisch darauf wartet, dass es besser wird.

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich die Blutung zum Stillstand bringen konnte und mein Adrenalinpegel wieder sinken konnte. Noch immer hält sie das Ding mit schwerem Arm in die Höhe und fragt:
„Hat das Licht eigentlich etwas geholfen?“ Ich gucke sie an, dann diese Lampe und musste laut lachen. „Nein es hat überhaupt keinen Unterschied gemacht!“ Aber darum ging es auch nicht. Das, was geholfen hat, war ihr Beistand. Noch heute lachen wir über diese Situation, wenn wir daran denken. Der Tag zieht sich. Unsere Hände werden langsamer, die Beine tun weh und trotzdem läuft alles weiter.

„Kannst du bitte heute Abend mit daran denken, dass wir neue OP-Abdeckfolien mitnehmen müssen?“ „Ja, schon notiert.“, murmelte sie, während sie den nächsten Venenzugang legt. „Kannst du kurz draußen mit den Leuten besprechen, was bei der Nachsorge zu beachten ist?“ „Habe ich schon!“, sagt sie, während sie nach der Spritze greift, um die nächste Narkose zu verabreichen. „Kannst du dem dünnen roten Kater bitte noch einen warmen Handschuh in die Box legen? Er wird seine Körpertemperatur nicht halten können.“ Sie unterbricht das Rattern der Schermaschine in ihrer Hand und grinst mich an. „Hat er schon.“ Wir kennen unsere Arbeit, wir kennen uns. Auf Einsatz verbringen wir 24/7 zusammen.

Während ich mich durch die letzten OPs des Tages kämpfe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie sie einen kleinen verängstigten Hund liebevoll aus der Box nimmt und ihn sanft an sich drückt. Ich bin gerührt. Während diesem Arbeitsmarathon ein Auge dafür zu haben, dem kleinen Freund diesen kurzen Moment der Geborgenheit schenken zu wollen, ist besonders. Genau das macht sie aus. Nicht nur die Leistung, nicht nur das Tempo – sondern die Momente des Mitgefühls.  Unsere Blicke treffen sich. „Was brauchst du?“ Ich seufze. „Nichts!“ Die letzte OP ist geschafft. Müde verlassen wir das Tierheim. Morgen geht’s weiter.

Von außen sieht es vielleicht so aus, als würden wir Ärzte den Großteil der Arbeit machen. Schließlich sind wir diejenigen, die operieren, aber das stimmt so nicht. Ihr Assistentinnen seid nicht nur helfende Hände. Ihr seid auch das Herzstück dieser Einsätze. Die, die mitdenken, wenn wir nicht mehr denken können. Die, die den Überblick behalten, wenn wir ihn mal verlieren. Die, die sich den ganzen Tag in tausend Teile reißen und trotzdem alles zusammenhalten. Danke. Danke für eure Arbeit, eure Geduld, eure Liebe für das, was ihr tut und wie ihr es tut. Und ja – auch dafür, dass ihr immer einen Tupfer parat habt.
Eure Julia