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Matia - Augen zu und durch

Ein Bericht von Miriam Klann | Tiermedizinstudentin

Im letzten Report erschien ein kurzer Text von mir. Ich hatte ihn spontan geschrieben, im Flugzeug direkt nach meinem Einsatz auf Kreta. Er wurde noch rechtzeitig eingereicht und schaffte es auf die achte Seite des Heftes. Ich schrieb über traurige Augen im Tierheim, darüber, dass es das schwerste an unserem Job sei, an diesen vorbeizugehen.
Rückblickend muss ich schmunzeln, über meine Naivität und darüber, dass ich ernsthaft zu glauben versucht hatte, mir mit diesem Text jegliches Verantwortungsgefühl von den Schultern zu streifen. Brav nach dem Motto: „Man kann sie eben nicht alle retten.“

Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, war es ein ganz bestimmtes Augenpaar, welches nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden wollte. Eine Hündin in einem Tierheim, die ich nicht mehr loslassen konnte. Schon während des Einsatzes musste ich ständig an sie denken. Beinahe jede Möglichkeit ergriff ich, um mich kurz zu ihrem Zwinger zu schleichen, um bei ihr zu sein. Natürlich schenkte ich auch den anderen Hunden meine Aufmerksamkeit und versuchte, die Streicheleinheiten so gerecht wie möglich aufzuteilen.
Es ist schwer zu beschreiben, was genau es war, was mich so sehr an dieser Hündin faszinierte. Klar, sie war recht hübsch, mittelgroß, rotbraun, etwas unförmig mit wunderschönen, einzigartigen Augen, doch das war es nicht, was mich in ihren Bann zog. Sie war optisch eigentlich ein Hund, den man auf Kreta zuhauf finden kann. Ich denke, es war ihre stille Präsenz, die mich packte.

Durchquert ein Mensch das Tierheim, wird die Geräuschkulisse unerträglich. Aus jeder Ecke kommen die Hunde angerannt, springen am Gitter hoch und bellen wie wild. Alle Mittel werden genutzt, um auch nur einen Hauch Aufmerksamkeit zu erlangen. Aufregung, Tohuwabohu, Chaos. Im trostlosen Tierheim-Dasein passiert (neben der Fütterung) ja auch sonst nichts, worüber man sich freuen könnte. Die einen betteln laut, die anderen verkriechen sich ängstlich. Diese Hündin war weder noch. Statt aufgeregt hochzuspringen, meine Hand abzuschlecken und mit den anderen Hunden um die Wette zu bellen, setzte sie sich einfach vor mich und sah mich an. Still und ruhig, nicht fordernd, nicht aufdringlich. Ihre lange Nase legte sie so auf die Gitterstäbe, dass ich sie kraulen konnte. Dieser Anblick wurde nicht nur als Foto neben meinen Text in den letzten Report gedruckt, sondern anscheinend auch ganz tief in mein Herz. Wenn sie durch die anderen Hunde im Zwinger mit aufgeregtem Umhergespringe verdrängt wurde, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, blieb sie stets sitzen und wartete geduldig, bis ich mich wieder ihr widmen konnte. Sie war anders, hatte Charme, eine besondere Ausstrahlung eben. Dennoch war an ein Mitnehmen nicht zu denken. Ich selbst hatte weder Zeit noch Platz für einen Hund im Uni-Alltag und eine Pflegestelle hatte ich auch nicht in Aussicht. Sowieso sind Vermittlungen sehr zeitintensiv und anstrengend. Mit demselben Aufwand könnte man so viele Kastrationen durchführen. Was sollte denn der Chef denken, wenn ich eine gesunde Hündin aus dem Tierheim mitnehme, von denen es hunderte zu finden gibt. Weder lohnt es sich, noch löst es das allgemeine Problem – objektiv betrachtet…

Also tat ich das, was ich schon so oft getan hatte in diesen schrecklichen Tierheimen. Ich drehte mich um und ging zurück in den OP. Bloß nicht nach links und rechts schauen und schon gar nicht umdrehen. Augen zu und durch.

Ich schrieb es mir von der Seele und versuchte mich damit zufrieden zu geben, dass sie ja schön und jung sei und möglicherweise die Chance für sie besteht, da irgendwie rauzuskommen. Der Anblick ihrer wunderschönen Augen wurde verschoben, in die hinterste Ecke meines Gehirns. Das sind die Mechanismen, die man erlernt, wenn man einige Male durch diese Tierheime gegangen ist und immer wieder mit ein und derselben Situation konfrontiert wird. Man kann sie eben nicht alle retten, also beeilt man sich lieber. Das war im Oktober 2021.

Die Monate vergingen und ich freute mich riesig auf meinen nächsten Einsatz auf Kreta im Frühjahr. An die Augen hatte ich längst nicht mehr gedacht.
Um mir einen Überblick zu verschaffen, ging ich also ein halbes Jahr später erneut durch dieses Tierheim. Das Chaos war unverändert. Ich lief in Richtung des Zwingers, in dem sich die Hündin mit den schönen Augen befunden hatte. Als ich um die Ecke bog blieb ich schlagartig wie angewurzelt stehen. Vor mir saß ruhig und geduldig die braune Hündin an derselben Stelle, an der ich mich nach dem letzten Einsatz von ihr verabschiedet hatte. Derselbe Ort. Derselbe Anblick. Dieselben Augen. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Für sie hatte sich nichts verändert. Ich im Gegensatz hatte in den vergangenen Monaten viel erlebt, habe Weihnachten und Silvester gefeiert, Städte in ganz Deutschland besucht. Ich habe ein weiteres Semester abgeschlossen, mein erstes Staatsexamen absolviert und Zeit mit meinen Lieben verbracht. Für mich hatte sich viel verändert, für diese Hündin rein gar nichts. Für keinen dieser Hunde hatte sich irgendetwas verändert. Der Alltag hier besteht aus Betonboden, Metallgitter und Kämpfen um das Futter. Tag für Tag. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Bis zum Lebensende. Keine Veränderung. Kein Entkommen.
Voller Emotionen rannte ich zu Antonia. „Die Hündin, sie ist immer noch hier…“
„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie verwundert. Erst jetzt bemerkte ich die Tränen, die meine Wange hinunterliefen. „Ich dachte hier werden ab und zu Hunde vermittelt… aber die Hündin mit den schönen Augen ist immer noch hier, wie kann das sein?“

Ich hörte, wie Antonia die Angestellte der Gemeinde auf griechisch fragte, ob denn Hunde hier vermittelt werden. Sie fing an höhnisch zu lachen. Die Antwort musste mir nicht übersetzt werden. Wie dumm war ich gewesen zu glauben, sie hätte eine Chance hier rauszukommen. Wie naiv. Wie blind. Keiner sieht die Hunde hier, keiner kommt in dieses Tierheim, um sich einen Hund auszusuchen. Für den Großteil der Menschen sind sie schlicht unsichtbar.

Geknickt lief ich zurück zu dem Zwinger und ließ meinen Emotionen freien Lauf. „Das ist doch einfach nicht fair“ murmelte ich vor mich hin. Ich blieb so lange dort am Gitter sitzen, dass die anderen Hunde von mir abließen und das Interesse verloren. Die Hündin mit den schönen Augen aber blieb neben mir sitzen, treu an meiner Seite, genau dort wo sie immer saß, wartend, freundlich und unaufdringlich.

So lief es ab, Tag für Tag. Jedes Mal saß sie dort an dem Zaun, blickte mich an und legte erwartungsvoll ihre Nase auf das Gitter. Im Grunde war eine Sache klar, ich kann ihr nicht ein zweites Mal den Rücken kehren. Aber Mitnehmen ist doch keine Option… Eigentlich…Objektiv betrachtet… Nun war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich das Ganze nicht mehr objektiv betrachten konnte. Vermutlich war allen anderen um mich herum von Anfang an klar, dass diese Hündin zu mir gehörte und ich sie mitnehmen werde. Wie ich im Nachhinein erfuhr, hatte Antonia schon während des laufenden Einsatzes mit der Angestellten der Gemeinde die Adoption und alles Bürokratische besprochen. Auch unsere Praktikantin Corinna sprach nur noch von „meiner“ Hündin. Doch ich hatte Zweifel und davon nicht zu wenig. Ich konnte sie auf keinen Fall selbst aufnehmen, eine Großstadt wie Berlin würde sie vollkommen überfordern und nach wie vor hatte ich keine Pflegestelle zur Hand. Eine freiwillige Helferin des Tierheims fragte mich ganz verwundert, warum ich denn das (Zitat) „Monster“ adoptieren würde, weil sie beim Füttern immer ihre Portion vor den anderen Hunden verteidigte und generell lieber ihre Ruhe hatte, statt wild mit ihren Zwingerkollegen zu spielen. Außerdem stellte sich heraus, dass sie sich in diesem Tierheim mit Leishmaniose infiziert hatte, was eine Vermittlung zusätzlich verkomplizieren würde. Dessen war ich mir vollkommen bewusst. Das wird kein Katzensprung.
 

In meiner Verzweiflung schrieb ich Melanie eine Nachricht und schilderte meine Situation.
„Wenn sie in deinem Kopf ist, wirst du sie für deinen Seelenfrieden mitnehmen müssen“, schrieb sie, „und wenn du dich um alles kümmerst, bekommt es Thomas fast nicht mit.“
Sie hatte recht. Mein Herz hatte sich sowieso schon entschieden, schon längst, schon vor einem halben Jahr.
Mit einem Mal kam mir ein Gedanke. Wir sind neben den Angestellten der Gemeinde und freiwilligen Helfern die Einzigen, die dieses Tierheim betreten, wir sind diejenigen, die die Hunde sehen, die sie streicheln, von ihrer Existenz wissen. Für uns sind sie nicht unsichtbar. Wir haben die Möglichkeit, etwas für sie zu verändern. Durch unsere regelmäßigen Kastrationsaktionen arbeiten wir aktiv daran, diese Misere zu beenden.

Und ich ganz persönlich habe auch die Möglichkeit, etwas zu verändern. Nicht für alle Hunde hier, aber für diesen einen Hund kann ich die Welt verändern. Ich habe einen Verein hinter mir, der mich unterstützt, Menschen an meiner Seite, die mir helfen. Ich habe die Möglichkeit und dieses Mal werde ich sie nutzen. Also: Augen zu und durch.
Wie immer saß sie wartend am Zaun, als ich ein letztes Mal um die Ecke zu ihrem Zwinger bog. „Ich werde dich mitnehmen und eines Tages wirst du über eine grüne Wiese rennen, das verspreche ich dir.“

Wie sie heißen sollte, stand sofort fest, denn es waren ihre Augen, die mich nicht losließen. Matia - griechisch für Augen. Ich nahm sie mit zu uns ins New Life Resort, vorbei an Thomas, der nur kurz die Augenbraue anhob. Der Hund verstand die Welt nicht mehr. Da sie vermutlich als Welpe in das Tierheim kam, kannte sie nichts außer Betonboden und Metallgitter.
Ich erlebte mit ihr, wie sie sich das erste Mal in einem weichen Körbchen wälzte, wie sie sich über ihr erstes Spielzeug freute, das erste Bad über sich ergehen ließ und vorsichtig das erste Mal über Gras lief.

Sie schenkte mir ihr volles Vertrauen, bei allem, was ich mit ihr vorhatte. Wir erkundeten gemeinsam die für sie neue Welt, der sie unvoreingenommen, überlegt und (wie sie eben ist) ruhig und unaufdringlich entgegentrat.

Parallel begann für mich die Suche nach einer Pflege- oder Endstelle. Ich kann sagen, dass ich beinahe jedem meiner Handykontakte eine Nachricht schrieb. Leider bekam ich eine Absage nach der anderen. Als für mich das neue Semester startete, hatte ich nur noch 2 Wochen, dann würde Christina mit dem Auto von Kreta zur Mitgliederversammlung nach Deutschland fahren und Matia dorthin mitnehmen.
Doch ich konnte niemanden finden, der sie aufnehmen konnte/wollte. 

War das alles etwa doch ein großer Fehler? War es die richtige Entscheidung, sie da rauszuholen, wenn ich ihr im Moment kein schöneres Leben garantieren kann? Dann kamen Bilder von ihr aus Kreta, sie hatte sich prächtig entwickelt. Es lohnt sich, Augen zu und durch. Ich war schon wirklich verzweifelt, als ich endlich eine Zusage bekam. Felix und Sarah, alte Freunde von mir, die bereits einen Hund aus Rumänien adoptiert hatten, konnten ebenfalls nicht wegsehen. Der Platz war perfekt und ich mehr als erleichtert.
So zog Matia Ende April zum ersten Mal in eine echte Wohnung, in eine Familie, in einen Alltag, in den Süden Deutschlands. Ich konnte durchatmen. Auch wenn klar war, dass dies nur eine Zwischenlösung sein würde und ich ihr für-immer-Zuhause noch finden musste, ich wusste, sie ist in guten Händen.

Eine Woche später: „Miri, Matia humpelt.“ Das darf doch nicht wahr sein… „Nicht durchdrehen, ich werde eine Lösung finden“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.
Augen zu und durch. Von Berlin aus organisierte ich eine Behandlung und hielt Kontakt zu Sara Kohl, die im Süden stets unsere Retterin in der Not ist. Später stellte sich heraus, dass eine alte, schief zusammengewachsene Fraktur des Oberschenkels die Ursache dafür ist, dass sie das Kniegelenk manchmal nicht richtig beugen kann. Schmerzen hat sie dabei aber nicht. Gut, dann kann sie eben nicht zu einem Marathonläufer vermittelt werden, dachte ich.

Zwei Wochen später: „Miri, Matia zickt unseren Hund ständig an, vor allem beim Füttern. Er ist total verschüchtert, wir müssen die Zwei trennen.“ Ich war ratlos. Erneut. Matia musste einen anderen Platz finden - Nein, ich musste einen anderen Platz finden und zwar schnell, nur wie? Wo sollte ich aus dem Nichts jemanden finden, der eine leishmaniosekranke, humpelnde, futterneidische Hündin aufnehmen konnte, die das Leben in Deutschland noch gar nicht richtig kannte? Und das alles aus mehr als 700km Entfernung. Doch ich hatte mich entschieden, ich hatte mich damals für sie entschieden und ich hatte versprochen, ihr ein besseres Leben zu ermöglichen, also Augen zu und durch.
Ich verbrachte ein ganzes Wochenende damit, zu telefonieren. Hin und her. Mit Sara, mit Melanie und dann mit Ramona. Ich kannte Ramona von einem kurzen Kennenlern-Essen mit dem Verein und wusste, dass sie vor Kurzem mit Melanie im Einsatz gewesen war. Sie wohnte auch im Süden Deutschlands, gar nicht weit entfernt von Felix und Sarah. Sie war meine letzte Hoffnung, ein letzter Versuch, mein letzter Anruf.

„Klar kann ich sie aufnehmen.“ Hörte ich wie selbstverständlich am anderen Ende der Leitung. Das war einfach. Einen Tag später zog Matia um und durfte sogar das Körbchen mitnehmen, welches sie bei Sarah und Felix so gemocht hatte.
Ein Stein fiel mir vom Herzen, und ich musste grinsen, als Ramona mir ein paar Wochen später schrieb, dass ich noch warten solle mit dem Vermittlungstext, da sie das Gefühl habe ihre Eltern verlieben sich gerade immer mehr in Matia. Ich hatte vollstes Vertrauen in die Hündin mit den schönen Augen, dass sie auch dem größten Hundeskeptiker den Kopf verdrehen und sich durch ihre stille Präsenz ganz tief in die Herzen schleichen würde.
So kam es auch. „Sie darf bei uns bleiben“.

Fast ein Jahr nach unserer ersten Begegnung unterschrieb ich ein wenig wehmütig Matias Adoptionsvertrag. Loslassen gehört dazu, Augen zu und durch.
In diesem Jahr hatte sich für sie so einiges verändert. Es war vermutlich das ereignisreichste Jahr ihres bisherigen Lebens. Matia wird für immer „meine“ Herzenshündin sein, doch ich bin so froh und dankbar, dass sie eine liebende Familie gefunden hat, die sie genauso annimmt, wie sie ist und die ihr das ermöglichen kann, was ich mir so sehr für sie gewünscht hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, Tränen der Freude. Es ist das alte Versprechen, welches ich ihr einst gab: „Eines Tages wirst du über eine grüne Wiese rennen!“ Auf dem Video, welches Ramona mir geschickt hatte, sieht man genau das. Matia, die fröhlich über eine grüne Wiese hüpft. Ich konnte das Versprechen halten.
Wie viele andere Hunde erhalten niemals diese Chance…

Ich persönlich kann nur Danke sagen, an alle die mir geholfen haben, auf mein Herz zu hören. Danke Matia für diese Achterbahnfahrt der Gefühle und für dein bedingungsloses Vertrauen. Danke Antonia und Melanie für das blinde Verstehen und den medizinischen Rat. Danke Thomas, dass du mir nicht den Kopf abgerissen hast. Danke Christina, dass du sie sicher nach Deutschland gebracht hast. Danke Felix und Sarah, dass ihr Matia so spontan und liebevoll den Start in Deutschland ermöglicht habt. Danke Sara für meine Rettung in der Not und danke Ramona, dass auch du dein Herz an diesen tollen Hund verschenkt hast.
Zu guter Letzt: vielen Dank an Sie, liebe Spender. Zu wissen, dass Sie hinter unseren Entscheidungen stehen und auch ermöglichen, Einzelschicksalen eine Chance zu geben, ist ein großes Geschenk.

Dank dieser Sicherheit müssen wir getrost auch in Zukunft nicht die Augen davor verschließen.