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Der Berber

Ein Bericht von Ines Leeuw | Tierärztin

Es gab eine Zeit, da war ich jung und hübsch. Ich strotzte vor Kraft, konnte mich gut bewegen, rennen, spielen, springen und toben. An diese Zeit, kann ich mich noch sehr gut erinnern. Sie war in den Jahren danach mein ständiger Begleiter in der elfjährigen Dunkelheit meines Lebens. Erinnerungen - ein wertvolles Gut in der Einsamkeit - hütete ich unter meinem Olivenbaum wie meinen Augapfel. Schöne Erinnerungen, die es nicht schafften zu verblassen. Die Zeit mit meinen Geschwistern und mit meiner Mutter breitet in meinen Gedanken auch heute noch ein warmes Gefühl in mir aus. Mehr als diese Gedanken hatte ich nicht.

Es kam der Tag, an dem ich aus meiner kindlichen Naivität herausgerissen wurde. Ich war in keiner Weise erwachsen oder hatte die Kraft, die plötzliche Abnabelung zu verstehen. Von heute auf morgen stand nicht mehr meine Mutter vor mir, sondern ein großer, dunkler Mensch. Sein Verständnis für Tierkinder war nicht vorhanden oder so rudimentär, dass er mit seiner Tat nicht einmal ansatzweise verstehen konnte, was für ein Verbrechen er gerade beging. Er band mich an eine Kette. Nichts gab es um mich herum, was mich hätte trösten können. Keine vertrauten Gerüche, keine vertrauten Geräusche, keine geliebte Wärme - alles war von einer Sekunde auf die andere nicht mehr da.

Ich saß mutterseelenallein unter einem Olivenbaum und hatte nichts, außer einem großen Feld, das ich bewachen sollte. Meine Angst war unermesslich, denn ich war vorher noch nie so allein gewesen. Die ganze Nacht hindurch weinte ich, aber ohne Erfolg. Ich blieb allein. So vergingen drei unglaublich schrecklich lange Tage und Nächte. Essen und Trinken konnte ich nicht, denn mein Magen war wie zugeschnürt. Meine Gedanken suchten meine kleine Familie und mein Herz pochte den Hunger einfach weg. Immer wieder ging die Sonne auf und wieder unter. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dasselbe Bild am Rande des Feldes starrte und hoffte. Hoffnung vergeht nicht, wenn die Sonne ihren Dienst getan hat. Auch die Nacht kann sie nicht löschen.

Aber irgendwann kamen der Hunger und auch der Durst. Erst jetzt fiel mir auf, dass da auch gar nichts gewesen wäre, was ich im Falle des Falles hätte essen oder trinken können. Man hatte mich einfach lebendig ausgelöscht. Ein weiterer Tag verging und dann erschien mein neuer Herr und warf mir ein paar trockene Scheiben Brot hin. Gierig verschlang ich sie. In einen alten Topf wurde Wasser gefüllt.

So verbrachte ich fortan meine Tage mit Warten und Ausharren. Ich drehte meine Kette oftmals um den Baum, schaute den Vögeln beim freien Flug zu und beneidete sie. Manchmal kam mein Besitzer tagelang nicht. Als er dann doch endlich mal erschien, freute ich mich riesig. Eine Abwechslung die gut tat. Ich tanzte vor mich hin, mein ganzes Hinterteil wedelte vor Freude, aufgeregt hüpfte ich auf und ab. Aber oft ignorierte mich mein Herr und warf mir nur ein paar Abfälle vor die hungrige Nase. Ganz selten legte er seine Hand auf meinen Kopf, wenn, dann nur ganz kurz. Ich genoss diese Momente der Zuneigung, sie brachten mich meiner einstigen Familie nah. Ich wollte ihm dankbar die Hand lecken, aber schon zog er sie wieder fort.

Manchmal sprach er auch zu mir. Hätte ich die Worte verstehen können, hätte ich gewusst, dass seine Vorstellung von dem kleinen Welpen eine andere war, als die, die sich nach Monaten zeigte. Ich war alles andere als ein prächtiger Rassehund geworden und angeben konnte man offensichtlich mit mir nicht. So vergingen die Jahre! Der Olivenbaum, an dem ich festgebunden war und der, bis auf ein paar Vögel und eine Katze, mein einziger Freund in all den Jahren war, breitete seine knorrigen Äste immer weiter über mir aus. Die Felder auf die ich aufpassen sollte, wurden bepflanzt und geerntet, mein Besitzer bekam graue Haare und wurde dicker.

Mit der Zeit fingen meine Knochen an weh zu tun. Meine Bewegungen wurden steif und schmerzhaft, mein Gehör wurde schlechter. An meiner linken Vorderpfote wuchs ein dicker Knoten und ich wurde immer dünner. Meine einzige Freude war, wenn mein Herr mich kurz besuchte. Nur für diese Augenblicke lebte ich noch. Als mich mein Herr eines Tages ungewöhnlich lange besuchte und mich eindringlich anstarrte, freute ich mich im ersten Augenblick über so viel Aufmerksamkeit, aber ein inneres Gespür für Bedrohlichkeit kroch in mir hoch und lies mich vorsichtig sein.

Mein Herz pochte, als er mich zum ersten Mal seit elf Jahren vom Baum losband und mich auf die Ladefläche seines Autos lud. Ich fühlte mich, als würde ich meinen Baum im Stich lassen, raffte mich mit meinen müden Knochen auf um über die Ladekante schauen zu können und konnte meinen Augen nicht trauen. Ein neuer Hund wurde anstelle meiner dort angebunden. Ein Baby, wie ich es einst war. Es war klar was hier passierte. Ich wollte den panischen Augen am Ende der Kette noch etwas zurufen. Etwas wie; "halte durch, es wird er Tag kommen", oder "sei nicht traurig, du schaffst das schon", aber der Wagen hatte sich längst in Bewegung gesetzt und mein Baum mit dem schreienden und sich gegen die enge Kette um seinen Hals stemmende Welpe, entschwanden aus meinem verschwommenen Blick. So sehr mir der kleine, an den Baum gefesselte Zwerg Leid tat, um so mehr freute ich mich auf mein neues Zuhause. Endlich hatte ich meine Zeit am Olivenbaum abgesessen und mein Herr würde mich mit nach Hause nehmen und ich glaubte, dass er verstanden hatte, dass ich ihn trotz allem sehr lieb gewonnen hatte. Ein warmes Glückgefühl, welches ich schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte, floss durch meinen alten Körper.

Aber nicht lange. Genauer gesagt nur bis zu dem Moment, an dem das Auto abrupt stoppte.

Mein Herr band mich los und setzte mich auf den Boden. Unsanft, was mir signalisierte, dass ich mit meinen Gedanken mal wieder falsch lag. Er stieg ins Auto und fuhr davon, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Da stand ich nun. Ich war allein und ob man es mir glauben mag oder nicht, aber jetzt fehlte mir zu meiner Familie auch noch mein Olivenbaum. Und die aufgehende Sonne am Feldrand. Was sollte ich tun? Ich irrte durch die unbekannten Straßen. Ich kannte nichts und niemanden. Ich ernährte mich von Müll und trank aus Pfützen. Stundenlang lag ich unter Bäumen und Sträuchern und wartete, dass mich mein Herr wieder abholte. Nichts dergleichen geschah. Ich alter Narr hätte es wissen müssen.

Ein Platz an einer Mülltonne sollte meinen Olivenbaum ersetzen. Hier fand ich zumindest hin und wieder ein bisschen Futter und die Menschen interessierten sich nicht für den kranken, ausrangierten Hund. Ich versteckte mich so gut ich konnte, denn ich wollte alleine sein. Eine Stimme lies mich aufhorchen. Sie klang anders als die anderen Stimmen und ich tat etwas, dessen Grund sich mir bis heute verschließt. Ich ging schwanzwedelnd auf diesen Menschen zu.

Er redete weiter auf mich ein, ich lies seine Berührung zu und wehrte mich auch nicht, als es mich in sein Auto hob. Vielleicht wollte ich auch mit meinem Leben abschließen, denn was hatte ich als alter, kranker Hund denn noch zu erwarten?

Dann war da diese Frau. Ihre Stimme faszinierte mich. Frauenstimmen hatte ich bisher selten gehört. Sie klang weich, lieblich und ihre Berührungen hatten etwas von der Zartheit einer frühlingshaften Blumenwiese. Als sie meine Pfote in ihre Hand nahm, spürte ich den Schmerz des Knotens nicht mehr. Ich glaube, ich zotteliger Trottel verliebte mich gerade, denn auf wundersame Weise tauchten in diesem Moment die Bilder meiner einstigen Familie in mir auf. Als sie mich auf ein weiches Kissen bettete, durchströmte ein dermaßen wohliges Gefühl meinen Körper, dass ich schon fast glaubte, in der Welle zu sein. Der Ort, an dem wir Tiere uns nach dem Tod auf dieser Erde wiederfinden.

Sie zog die Tür hinter sich zu und mit einem vollen Bauch - so etwas Köstliches hatte ich noch nie gegessen - schlief ich ein. Das war auch gut so, ansonsten hätte ich gesehen, wie traurig die Frau geworden war. Für sie war es wie eine persönliche Niederlage, oder wie die Amputation ihres Herzens, sehen zu müssen, in was für einem erbärmlichen Zustand ich zu ihr gebracht wurde und wie wenig sie für mich tun konnte. Nach ihrer Untersuchung, von der ich gar nichts mitbekommen hatte, wusste sie, dass es einen weiteren Knoten in meinem Bauch gab, der noch um einiges größer war als der an meinem Fuß und dass mein Herz eine Operation nicht mehr mitmachen würde.

Für mich jedoch begann ab diesem Moment, in dem die Frau mal wieder ein bisschen von sich selber verlor, weil sie mir nicht helfen konnte, ein neues Leben. Ich bekam köstliches Futter, und frisches Wasser stand rund um die Uhr für mich bereit. Die anderen Hausbewohner lernte ich kennen, wurde gestreichelt und sogar gebürstet. Auch wenn meine Knochen oft schmerzten, die kleinen Spaziergänge ums Haus lies ich mir nie entgehen. Jeder Strauch wurde von mir untersucht, jeder Stein beschnuppert und die ältere Hundedame, die auch im Haus wohnte, wurde meine beste Freundin. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. So konnte sich also das Leben anfühlen. Es waren schon wieder einige Monate ins Land gezogen, als die Sorgenfalten "meiner" Frau kaum noch zu übersehen waren. Sie setze sich neben mein Bett, kuschelte mich wie schon so oft zuvor und drückte mich fest an sich. "Ich werde dich, trotz deines schwachen Herzens, operieren, denn der Tumor an deinem Fuß wird immer größer. Der in deinem Bauch auch. Sollte ich dich verlieren, verzeih es mir bitte." Ich tat so, als würde ich sie verstehen und leckte die Tränen von ihrem Gesicht.

Heute lachen wir über diese dunklen Gedanken. "Meine" Frau dachte, dass ich alt bin, dass ich krank sei und dass mir die Kraft fehlen würde. Sie hatte aber vergessen, dass ich eine Erinnerung in mir trage und dass diese Erinnerung stärker ist als ein schwaches Herz. Viel stärker. Die Erinnerung an meine Kindheit, an die Unbeschwertheit des Lebens und die Wärme meiner Mutter wollte ich nicht einfach wegwerfen. Nicht wegen zwei Tumoren und einem kranken Herzen. Ich möchte diese Zeit noch einmal erleben. Ich möchte unbeschwert sein, ich möchte geliebt werden und ich möchte die Freiheit so lange genießen, wie es eben geht. Ich möchte berührt werden und die Wärme der Menschen genießen, denen ich vertraue.

Ich bin angekommen, kann von meinem Platz, den ich mir selbst aussuchen durfte und an dem ein weiches Kissen liegt, den Sonnenaufgang sehen und auch ihren Untergang. Ich habe meine Kette eingetauscht und gehörte nun zu Menschen, die mich lieben, so wie ich bin. Alt, krank und nicht mehr ganz so schön. Aber ohne Tumore.

Die Geschichte, die Sie gerade gelesen haben, ist die Geschichte von unserem Berber. Berber deshalb, weil er am Anfang so verzottelt und verfilzt war, dass er mit jedem alten Berberteppich mithalten konnte. Eine Geschichte stellvertretend für alle alten Hunde, die von ihren Besitzern ausgesetzt, getötet oder nicht mehr gewollt werden. Leider enden viele dieser Geschichten nicht mit einem Happy-End.

Berber lebt. Er wurde im November 2013 zu uns gebracht, mit einem riesigen Tumor am Fuss und einem Milztumor. Zudem ist er noch herzkrank und hat Arthrosen. Selten haben wir bei einem Hund einen so liebenswerten und gutmütigen Charakter kennengelernt. Unser alter Herr freut sich jeden Tag bei uns zu sein. Er fordert seine Spaziergänge, seine Streicheleinheiten und genießt das Bürsten und Streicheln. Obwohl er nie etwas Anderes zuvor kennengelernt hat, ist er die Sanftmut in Person. Schaut man in seine Augen erkennt man seine reine Seele. Wenn er morgens für uns, wie ein im Winde wehender, knorriger Olivenbaum tanzt und seine Freude kaum bändigen kann, dankt er uns für sein Leben. Wieder und wieder beweist er uns, dass auch ein alter Hund, der viele Jahre ein trauriges Dasein gefristet hat, seine Chance auf ein neues Leben nutzen kann.

Vielen Dank, dass Sie ihm diese Chance gegeben haben. Ohne Ihre Spende wäre das nicht möglich gewesen. Berber verstarb am 23.Oktober 2014.

Ihre Ines Leeuw

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