Ein Wunder am Straßenrand
Ein Bericht von Ema Alexandraki, Tierärztin
Am 28. Juli, gegen 20:30 Uhr, fuhr ich auf Kreta mit meinen Kindern von Georgioupoli zurück nach Rethymno. Auf der Nationalstraße fiel mir etwas Kleines am Straßenrand auf – ein regloses Kätzchen, das aussah, als sei es von einem Auto angefahren worden. Ich hielt sofort an, ging hin und sah, dass es sich noch bewegte. In dem Moment, in dem ich es in meine Arme nahm, begann es zu schnurren – als wüsste es, dass es nun in Sicherheit war.
Sein Anblick war herzzerreißend: geschlossene, eitrige Augen, gebrochene Vorderpfoten, zerquetschter Schwanz, dehydriert und voller Flöhe. Meine älteste Tochter hielt es in ihren Armen, bis wir die Praxis erreichten. Dort begann der Kampf um sein Leben: Infusionen, Antibiotikum, Vitamine, Reinigung …
Ich konnte nicht anders. Die Tierärztin in mir riet zur Euthanasie. Seine Chancen standen wirklich nicht gut. Dieser zusammengefahrene, schnurrende Klumpen Fleisch mit Fell war als Katze kaum noch zu erkennen. Aber als Mutter versagte ich. Meine Töchter waren sofort bei mir. Sie streichelten ihn auf dem Weg zur Praxis mit blutverschmierten Händen. Sie guckten mich mit großen, erwartungsvollen Augen an die nichts sagten außer „Mama du rettest ihn doch?“ Das sind Nadelstiche direkt ins Herz und Eltern wissen, was das bedeutet.
Also versuchte ich es. Beim Füttern merkte ich, dass auch der Unterkiefer gebrochen war. Er konnte nur ein wenig Mousse fressen – mühsam, Stück für Stück. Doch ans Aufgeben war nicht zu denken, und der kleine Mann nahm die ihm geschenkte Chance dankbar an.
Meine Unsicherheit schwand. Die Zuversicht meiner Töchter schien sich auf mich und meinen Patienten zu übertragen.
Jeder folgende Tag brachte kleine Fortschritte. Nach und nach wurde er kräftiger, die Augen heilten, und sein Schnurren wurde immer lauter. Als er schließlich stark und stabil genug war, konnte die Amputation des linken Vorderbeins und des Schwanzes wagen. Das verbliebene Vorderbein ist leider ebenfalls deformiert, doch das scheint ihn nicht weiter zu stören.
Er wird ein Krüppelchen bleiben, aber er ignoriert es mit einer Leichtigkeit, die auch meine Kinder mit ihm teilen. Sie spielen, toben und helfen mir bei seiner Pflege. Somit hat die Arche nicht nur eine Tierärztin gewonnen hat sondern auch zwei Assistentinnen.
Heute ist dieses Kätzchen nicht wiederzuerkennen: lebendig, fröhlich, voller Energie. Es spielt, läuft – so gut es kann –, genießt jeden Augenblick und frisst mit großem Appetit. Das hat ihm auch seinen Namen eingebracht: Keftes (griechisch für Fleischbällchen).
Er turnt und springt mit seinen 2½ Beinen wie kein Zweiter. Getreu dem Motto: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg – und (Lebens)Willen hat der Racker mehr als genug.
Keftes ist der lebendige Beweis dafür, dass man mit ein wenig Liebe, Fürsorge und Glauben selbst das, was verloren scheint, wieder aufblühen lassen kann.
Wenn Keftes noch größer und stärker geworden ist, suchen wir für ihn ein Zuhause, das auf seine besonderen Bedürfnisse eingehen kann und bereit ist, diesem Wunder vom Straßenrand ein schönes Leben auf 2½ Beinen zu ermöglichen. Aber nur dann, wenn meine Töchter ihr ok geben, immerhin haben eigentlich sie sein Leben gerettet.
Ich danke meinen Kindern für einen lebensbejahenden Optimismus. Und dem kompletten Team der Arche, die mich von A bis Z unterstützten.
Dr. Ema Alexandraki aus Rethymno