Magnus: Von kleinen Kämpfern
“Schwester Schomann! Ich muss deinen Abend kaputt machen...”, hörte ich Antonia am anderen Ende der Leitung. Eigentlich heiße ich Christina, aber „Schwester“, gepaart mit meinem Nachnamen, bürgerte sich irgendwann bei der Arche ein. Wird bei einem Anruf ein Ausrufezeichen hinter meine Anrede gesetzt, weiß ich, dass es ernst ist.
Ein Hilferuf von Touristen aus Matala erreichte unsere Tierärztin Antonia. Ein verunfalltes Kätzchen wurde gefunden und es brauchte dringend medizinische Hilfe. Antonia war gemeinsam mit ihrer Assistentin Lisa zum Kastrieren im Osten Kretas, ich war alleine im New Life Resort (NLR) geblieben, um unsere Stationspatienten zu betreuen.
“Du musst dich um ihn kümmern, es geht ihm sehr schlecht. Ich komme erst in einer Woche von dem Einsatz zurück, dann kann ich ihn operieren. Bis dahin musst du ihn stabilisieren und aufpäppeln. Ruf´ mich an, sobald er bei dir ist.“
Seit über zwölf Jahren bin ich nun schon Teil des Tierärztepools. Unzählbar viele verunfallte Tiere habe ich betreut, unendlich viele Überlebenskämpfe mitgekämpft und einige Tränen vergossen. Unzählige Male habe ich gehofft, begleitet, gebangt und getrauert. Ich weiß, was ich zu tun habe, wenn Notfälle zu uns finden, trotzdem überschwemmt mich Adrenalin, wenn ich alleine bin. Komplett alleine mit einem Notfall, der alles haben kann. Alles! Aber ich musste mich zusammenreißen, ich war seine einzige Chance. An einem Wochenende einen ortsansässigen Tierarzt zu finden ist aussichtslos, Antonia war 150 km weit weg. Was blieb also übrig? Schwester Schomann! - die per Lautsprecher mit Antonia am Telefon die Untersuchung begann. Seitenlage. Bewegungsunfähig. Mehr tot als lebendig. Der Kiefer des kleinen Kerls war offensichtlich gebrochen und die Haut des Unterkiefers durch den Unfall komplett abgerissen. Nicht nur das, auch ein Vorderbein schien nicht in Ordnung zu sein. “Es steht nicht gut um ihn.” waren Antonias letzte Worte, bevor sie auflegte. Nun war ich wieder allein. Teil zwei, sozusagen. Aber diesmal spürte ich ein Herz schlagen, schaute in schwach geöffnete Augen, trug ein Leben in meiner Hand. Ein Leben, welches diese Welt und mich verlassen wollte.
Magnus. Ich gab ihm den Namen Magnus, was im Nordischen „Macht und Stärke“ bedeutet. Wahrscheinlich, um mir selbst Mut zu machen und um den Kampf aufzunehmen. Den Kampf mit einer schlaflosen Nacht, mit unzähligen Wärmflaschen und dem hoffnungsvollen Lauschen nach Atemzügen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste ich eingeschlafen sein, schreckte aber hoch, als die Schmerzmittel und Antibiotika ihre Wirkung zeigten. Aus dem weichen Bettchen neben mir erhob sich ein Köpfchen und schnurrte leise. Fast so, als wäre nichts gewesen, blinzelten mich große Augen an, die gestern noch sterben wollten. Haben Sie schon einmal ein Tier mit einem Kieferbruch gefüttert? Nur so viel: es dauert lange, muss geduldig und vorsichtig geschehen und sollte vor allem schmecken. Aber meiner Spezialrezeptur konnte noch keiner widerstehen und Magnus zeigte von Stunde zu Stunde, dass er in seinen neuen Namen hineinwachsen wollte. Das kleine Kerlchen kämpfte sich immer mehr zurück ins Leben, wurde fitter und frecher. Schon bald wollte er nicht mehr per Hand gefüttert werden - nein, auch das konnte er mit der Zeit wieder allein. Ich war baff und mächtig stolz.
Demnach stand seiner OP nach der Heimkehr von Antonia nichts im Wege. Und auch sein Vorderbein erholte sich von Tag zu Tag.
Sie können sich vorstellen, was eine Verabschiedung für mich bedeutet? Aber Magnus war nach vielen Wochen wieder völlig hergestellt. Ein kleiner, stolzer Kater war aus einem Häufchen Elend geworden. Wenn es nach mir ginge, wäre im NLR noch Platz für ungefähr 2000 Katzen, aber irgendwie muss die Vernunft siegen. Leider. Aber eine Verabschiedung am Flughafen ist um ein Vielfaches schöner, als ein Abschied in der Nacht, als ich neben ihm wachte, seine Atemzüge hoffnungsvoll zählte und mit jedem einzelnen bangte.
Magnus durfte in ein tolles Zuhause in Deutschland mit Katzen- und Hundefreunden ziehen, wo er nun liebevoll umsorgt wird. Sein Platz im NLR war bereits wieder mit dem nächsten Notfall-Kätzchen belegt. Doch den Platz in meinem Herzen hat er sich für immer erkämpft.
Seine Geschichte steht stellvertretend für so viele verunfallte Katzen, die ich schon betreute. Für diejenigen, die es geschafft haben, aber auch für diejenigen, für die jede Hilfe zu spät kam. Sie zeigt, dass es sich lohnt, nicht vorschnell aufzugeben und den Weg gemeinsam zu gehen, scheint er noch so schmerzhaft und schwierig.
Ich freue mich über das Happy End für meinen kleinen Kämpfer Magnus.
Eure Christina, äh… Schwester Schomann