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Zak

Ein Text von Antonia Xatzidiakou, Tierärztin


Es war ein regnerischer Tag im Februar. 35 Tiere hatte ich bisher kastriert und langsam kroch die Müdigkeit in meinen Körper.
Zwar war zuhause in der Station noch einiges zu tun, aber ich freute mich schon auf eine heiße Dusche. OP-Tage können auch schmutzig sein, denn Blut, Urin, Kot und Erbrochenes sind immer präsent. So riecht es nun mal an manchen Tagen, aber mit einer Dusche verschwindet der Geruch. Daran glaubte ich, bis Gina und Brigitte von APAL , einem Tierschutzverein aus Südkreta, einen Hund im Vorraum abstellten.
Mich erreichte ein „neuer“ Geruch - eher Gestank. Etwas zwischen vergammeltem Käse und einem nassen Welpen mit Durchfall. Ekelhaft!

„Kannst du uns deine Meinung zu seinem Zustand sagen?“
Als sich die Tür der Box öffnete, kam ein stinkendes, schwarzes, langhaarige Wesen heraus. Voller Angst drehte sich ein ehemaliger stolzer Collie um seine Leine. Als er mir sein Hinterteil zeigte, sah ich die Quelle des Gestanks. Er hatte am Analbereich einen riesigen Tumor. So groß wie eine Orange, nur roch er anders, denn der Tumor war aufgeplatzt. Eiter lief aus der offenen Wunde und Maden saßen darauf. Das einst edle Tier zitterte. Ich auch. Es war kalt, es war ein langer Tag und wir wollten nach Hause. Unter die Dusche und zurück ins zivilisierte Leben ohne Tumore und leidende Tiere.

„Es ist zu spät“, hörte ich mich traurig und kraftlos sagen. „Inoperabel. Er hätte mir früher gebracht werden müssen, dann hätte ich den Tumor rechtzeitig entfernen können“.
Einschläfern war das einzige was mir an diesem trüben Regentag nach 35 Operationen einfiel. Damit hatte ich seine Zukunft in den Müll geschmissen. Ich? Nein verdammt, seine Besitzer, denn er hatte auf einem Hof gelebt und seine Besitzer wollten nichts von diesem Gestank mitbekommen haben? Den Tumor hätten Kinder erkannt. Wie gleichgültig kann man sein?

Ich konnte die Enttäuschung in Ginas und Brigittes Augen erkennen, aber ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Ich bin nur eine müde Tierärztin und kann höchstens an der Zukunft schrauben.
„Es gibt aber keine Zukunft für ihn“, hörte ich mich noch schimpfen, als ich das Auto aufschloss und endlich nach Hause fahren durfte. Einschläfern, ohne die Einwilligung der Besitzer, konnte ich ihn auch nicht. Mein Tag war an seinem absoluten Tiefpunkt angekommen.
Diese traurigen Geschichten sind für uns Alltag, man kann leider nicht alle retten. Man muss lernen mit diesen Gefühlen zu leben, sonst kann man hier nicht arbeiten. Heute fiel mir das aber besonders schwer.

Einige Tage später erreichte mich die Nachricht, dass der Tumor-Hund nicht frisst und es ihm nicht gut geht. Natürlich gehts dem Hund nicht gut! Er hat ja einen riesigen Ball am Hintern, er kann sein Geschäft nicht machen, weil es so schmerzhaft ist und natürlich will er dann auch nicht fressen! Deswegen wäre die Euthanasie das Moralischste gewesen, was ich hätte tun können. Das wussten auch Gina und Brigitte. Aber das war ja gar nicht das größte Problem. Das größte Problem war, die Besitzer zu überzeugen, dass Lebensqualität wichtiger ist als die Länge der körperlichen Existenz. Nach etlichem Hin und Her wurde beschlossen, dass Gina versuchen sollte, die Leute zu überreden den Hund abzugeben. Dann
könnten wir seinen letzten, würdevollen Schritt mit ihm gehen. Bis dahin wurde der arme Kerl mit Schmerzmitteln, Antibiotika, leckerem, aber den Kot weich machenden, Futter versorgt. Er sollte die letzten Stunden so angenehm wir möglich verbringen dürfen.

Eine Woche später war die Hälfte von unserer Kreta-Tour vorbei. Wir hatten drei Tage frei, bevor der zweite Teil losging. Ein bisschen Schlaf und Erholung war dringend nötig. Bis zu dem Zeitpunkt als Gina anrief, dass sie den Hund bekommen hat. Die Leute wollten ihn nun doch nicht mehr haben, er stinkt eh zu sehr.
Gleich am nächsten Tag kam er zu mir. Das Gitter öffnete sich zum zweiten Mal und die schwarze Figur kam wieder ängstlich heraus. Der Gestank war der gleiche, diesmal störte er mich nicht. Wahnsinn was für einen Effekt die Müdigkeit auf meine Nerven hat.
An diesem Morgen war ich aber ausgeschlafen.

„Er ist so dünn“, sagte meine Helferin Christina. Sie hatte mehr als Recht, denn sein Zustand wurde von viel Fell überdeckt. Meine Hand tastete von seinem Schwanz hinauf bis zu seiner Halswirbelsäule. Ich fühlte nur Haut, Knochen und einen Tumor. Dann erreichten meine Finger seinen Kopf. Süss ist er. Zwei honigbraune Augen schauten mich an. Sein Blick war herzzerreißend. Er wusste nicht wo er war und was mit ihm gemacht wurde. Seine Angst spürte ich bei jedem einzelnen Atemzug. Er konnte nichts dafür, dass er so vernachlässigt wurde. Für dieses Tier hatte man bestimmt einst viel Geld ausgegeben, umso weniger verstand ich, wieso man ihn jetzt sich selbst überließ.

Und plötzlich verabschiedete sich meine Neutralität. Mit einem Mal wurde es persönlich.

Nichts war mir mehr egal, ich war angewidert wie man den Zustand dieses stolzen Tieres so ignorieren konnte. Wie man ihn seinem Schicksal überließ, welches hätte verhindert werden können. In diesem Moment war er nicht mehr irgendein Hund. Er wurde Zak und irgendetwas verband mich mit ihm. Meine Müdigkeit war restlos weg und es gab wieder die Antonia, die kämpfen konnte. Für ihn, für mich und eine gerechte Welt.
Das Problem der Emotionalität ist allerdings, dass man nicht immer die korrekten Entscheidungen trifft. Das war mir an diesem Tag allerdings völlig egal. Eine neue Welt voller Hoffnung öffnete sich in mein Kopf. Vielleicht muss es nicht sein Ende sein? Vielleicht kann er noch leben, vielleicht kann man ihm noch zeigen, was es bedeutet, für jemanden wichtig zu sein. Wie es sich anfühlt, gesehen zu werden.

„Christina, wir versuchen es“, hörte ich mich sagen und war über meinen aufkeimenden Kampfgeist selbst erschrocken. Mein ganzer Körper schwamm in Adrenalin.
Kurz vor 21:00 Uhr lag Zak auf dem OP-Tisch. Aber je mehr ich mir den Tumor angeschaute, desto waghalsiger fand ich den Versuch. Mein Gehirn hatte keine Kontrolle mehr über meine Hände. Eine komische Kraft kontrollierte mein Handeln. Ich war nicht mehr nur eine Tierärztin sondern eine Hundebesitzerin, die wusste wie man mit einem Skalpell umgeht. Längst war klar, dass ich nicht irgendeinen Hund operierte, sondern meinen! Millimeter um Millimeter schnitt ich vorsichtig das Böse weg. Jeden Augenblick rechnete ich damit, irgendeine inoperable Stelle zu treffen und damit sein Ende zu besiegeln. Der Blutverlust war enorm. Aber je komplizierter es
wurde, desto konzentrierter wurde ich. Drei Stunden führte mich eine magische Kraft durch die Operation. Drei Stunden, in denen ich nichts, aber auch gar nichts anderes mitbekam. Ich war in meiner eigenen Welt.

Die Stille im Raum wurde lediglich durch Gedanken und Sätze wie: „mehr Tupfer“, „er wird sicher inkontinent“, „das Loch das zurückbleibt kann ich nicht zunähen“, „er wird die lange Narkose nicht packen“, unterbrochen.
Als ich Stich für Stich wieder aus „meiner Welt“ hervorkam, war das Wunder geschehen. Der Tumor war entfernt und tatsächlich hatte ich die riesige Wunde mit der noch verbliebenden Haut schließen können. Kurz nach Mitternacht hatte sich Hoffnung ein Nest in mein Herz gebaut. Es gab wieder eine Zukunft.

Die ganze Nacht hat Zak um sein Leben gekämpft. Anämisch und abgemagert wie er war, hatte ihn der Blutverlust an seine Grenzen gebracht. Seine Temperatur konnte ich kaum anheben und der Kreislauf wäre mir fast kollabiert. Mit Wärmflaschen, Heizlampen und Infusionen haben wir die ganze Nacht alles getan, was möglich war. Ich erwischte mich sogar dabei, wie ich seine Pfote hielt und ihm über die Stirn strich.
Irgendwann war Stille in meinem Kopf. Ein Sonnenstrahl auf meiner Wange weckte mich. Ich war neben seinem Korb eingeschlafen.
Kaum hatte ich ein Auge auf, traf mich mitten ins Herz fast der Schlag. Zak atmete. Er lebte!

Sehr müde schaute er mich mit seinen wunderschönen, honigfarbenen Augen an. Seine Gesichtszüge waren zwar noch matt, aber ein kurzes Funkeln war nicht zu übersehen.
Während der nächsten Tage würde er kräftiger und kräftiger und am zweiten Tag zeigte er uns, dass die OP insofern erfolgreich war, als dass er keine Schäden am Analsphinkter davongetragen hatte.

Inzwischen war unser Einsatz auf Kreta fast zu Ende und damit kam die Überlegung auf, was aus ihm jetzt werden sollte? Die Wundnaht ging wegen der starken Spannung teilweise auf. Erneutes Zunähen kam nicht im Frage, es gab kein Gewebe mehr. Es musste so heilen und das hieß tägliche Wundversorgung und Verbände.
Kurz erzählt; Zak befand sich zwei Wochen nach seiner Operation in einer Reisebox und er kam mit mir nach Hause aufs griechische Festland. War ja schon während der OP klar...
Das neue Kapitel hatte angefangen. Die offene Stelle heilte komplett zu und er war nun offiziel ein „normaler“ Hund. Mein Hund! Zak blühte auf und zeigte jedem seinen charmanten Collie-Charakter. Er wurde von allen Menschen und Hunden in meinem Haus geliebt und sofort als einer von ihnen akzeptiert. Er war nicht mehr wegzudenken und da, wo er hingehörte. In seiner Familie!

Es war reines Glück, Eingebung oder eine fremde Macht, dass ich plötzlich an ihn geglaubt hatte und die Operation versuchte. Jetzt wollte ich gutmachen, was seine ehemaligen Besitzer so vernachlässigt hatten. Ich wollte „Zakie“ alles zeigen was ich mir für ihn wünschte. Das Meer, die Berge, den Fluss, die Cafés, die Parks, die Stadt. Aber die Zeit vergeht schnell, wenn man da ist, wo man Liebe findet. Zu schnell sind die Monate vergangen!

Sechs Monate später stand die Zeit wieder still. Das Röntgenbild auf meinem Bildschirm traf mich wie eine Axt. Ich zerfiel wie eine Sandfigur, die von Wellen umspült wird.
Zak hatte Metastasen in den Lymphknoten in seinem Bauch. Mir war sofort klar, dass unsere gemeinsame Zeit damit tickte. Viel zu schnell. Ab jetzt wurde jede Minute mit ihm wichtig. Plötzlich war Zeit sehr wertvoll. Plötzlich gab es kein „wir werden es morgen machen“. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich den Tod nicht aufhalten konnte.
Bis zu seinem letzten Moment hatte Zakie ein Lächeln im Gesicht. An dem Tag, als er schlimme Schmerzen hatte und nicht aufstehen wollte, wurde ich wieder eine Tierärztin. Ich half ihm ein letztes Mal in Ruhe und mit Liebe fortzugehen. Ich weiss dass er glücklich war. Er hat mir jeden Tag gezeigt, dass die Hoffnung Berge versetzt. Auch wenn es nur kurz war. Viel zu kurz!

Antonia